Die Kandidatur des amerikanischen Präsidenten ist akut gefährdet. Die Demokraten denken laut über Alternativen nach. Was geschieht in den kommenden Wochen? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
So haben die Demokraten sich das Wahljahr 2024 nicht vorgestellt. In den Vorwahlen räumte Präsident Joe Biden die demokratischen Delegierten in allen Teilstaaten und Territorien ab, eine ernstzunehmende Gegenkandidatur existierte nicht. Wer will schon den amtierenden Präsidenten herausfordern? Stellt sich dieser zur Wiederwahl, heisst es für alle anderen: eine Runde aussetzen, unbedingte Loyalität beweisen. Sonst macht man sich unbeliebt im Parteiapparat.
Führende Demokraten ignorierten lange die klaren Signale, dass Joe Biden für eine zweite Amtszeit nicht tauglich ist. Und dass eine Mehrheit der Wähler das genauso wahrnimmt. Stattdessen erklärten sie mit einer Überdosis kognitiver Dissonanz das Altersproblem des Präsidenten weg: Die Umfragen seien ungenau, die Medien seien voreingenommen, die augenscheinlichen Zeichen des physischen und mentalen Abbaus von Joe Biden seien eine abstruse Verschwörungstheorie.
Doch mit der ersten TV-Debatte zwischen Joe Biden und Donald Trump am 27. Juni kam die Stunde der Wahrheit. Die Zerfall des 81-jährigen Präsidenten präsentiert sich dem 50-Millionen-Publikum live und ungeschminkt am Bildschirm. Das Echo ist katastrophal; ein Medienhaus nach dem anderen verlangt, dass Joe Biden seine Kandidatur zurückzieht. Namhafte politische Berater sagen eine Niederlage gegen Donald Trump voraus.
Unter den Demokraten bricht die Panik aus. Was tun? Den Kandidaten austauschen? Die Krise aussitzen? Die Meinungen bilden sich derzeit noch, doch immer mehr Stimmen, von der Basis, seitens der Geldgeber und teilweise aus dem Kongress, verlangen eine Neuaufstellung.
Eines ist klar, die Uhr tickt. Am Parteitag der Demokraten vom 19. bis zum 22. August muss die Nominierung des Präsidentschaftskandidaten stattfinden. Die ersten Teilstaaten zertifizieren ihre Wahllisten unmittelbar danach.
Drei Szenarien sind möglich: Entweder Joe Biden kann die Zweifel an seiner Tauglichkeit zerstreuen und wird wie geplant nominiert. Oder es findet auf die eine oder andere Weise, freiwillig oder erzwungen, ein Kandidatenwechsel statt.
Szenario 1: Joe Biden bleibt im Rennen
Wie gross ist die Chance, dass sich Joe Biden als Kandidat halten kann?
Es ist derzeit immer noch ein naheliegendes Szenario. Denn Präsident Joe Biden will seine Kandidatur unter keinen Umständen aufgeben. Im Interview mit dem Fernsehsender ABC eine Woche nach der Debatte sagte Biden, er scheide nur aus, wenn ihm «Gott der Allmächtige» das befehle. Sein Kommunikationsteam hat diese Woche eine Offensive gestartet, um die parteiinterne Meuterei zu stoppen. In einem zweiseitigen Brief an die Demokratische Partei beharrt Biden am 8. Juli darauf, dass er der beste Kandidat gegen Donald Trump sei. 14 Millionen Demokraten hätten in den Vorwahlen für ihn gestimmt, und seine Regierung habe substanzielle Erfolge vorzuweisen. Er ruft die Demokraten auf, die Reihen schleunigst hinter ihm zu schliessen. In einer medialen Blitzaktion trat er in TV-Interviews kämpferisch auf und zeigte sich auf MSNBC von der Elite der Demokraten frustriert, die immer alles besser wüssten.
Wer steht noch hinter Biden?
Im Moment fordern bloss ein Dutzend Kongressabgeordnete und Senatoren offen einen Rückzug von Joe Biden als Präsidentschaftskandidat. Der Mehrheitsführer Chuck Schumer im Senat und der Speaker Hakeem Jeffries im Repräsentantenhaus halten bis jetzt zu Biden, wie auch die meisten Parteigrössen, inklusive Barack Obama, Bill Clinton und möglicher Ersatzkandidaten wie Vizepräsidentin Kamala Harris und der kalifornische Gouverneur Gavin Newsom. Andere wichtige Demokraten wie die ehemalige Speakerin Nancy Pelosi und der afroamerikanische Abgeordnete James Clyburn stützen Biden, aber anerkennen, dass die Lage besorgniserregend ist. Nancy Pelosi erklärte am Mittwoch, die Entscheidung müsse nach dem Nato-Gipfel fallen und sagte: «Die Zeit läuft aus». Die meisten Demokraten befinden sich in ähnlicher Wartestellung.
Kann Biden Donald Trump überhaupt noch besiegen?
Die Chance bleibt bestehen. Trotz der blamablen Fernsehdebatte scheint Biden nur wenig Wählergunst verspielt zu haben. In nationalen Umfragen ist der Schaden begrenzt, Joe Biden verliert gegenüber Trump rund zwei Prozentpunkte. In den Teilstaaten zeigt sich ein ähnliches Bild. Es bleibt ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Donald Trump liegt nun in den aggregierten nationalen Umfragen rund drei Prozentpunkte vor Biden und führt in allen «Swing States». Der «Cook Political Report» hat gerade die Bewertung von sechs Teilstaaten zugunsten von Trump geändert. Um im November zu siegen, muss Joe Biden der Trendwechsel gelingen. Ob er dazu fähig ist, daran gibt es berechtigte Zweifel.
Wie sehen Wählerinnen in den Swing States Bidens Alter, und wen würden sie sonst wählen?
Die Teilstaaten im südlichen Sonnengürtel, namentlich Georgia, Arizona und Nevada, in welchen Biden 2020 knapp gegen Trump siegte, könnten dieses Jahr zur Problemzone werden. Die Bevölkerung ist dort jünger und lateinamerikanischer als im Norden. Und genau diese Wählergruppen bekunden besonders Mühe mit Joe Biden. Bei der älteren, weissen Wählerschaft im nördlichen Rostgürtel hingegen geniesst Biden nach wie vor Rückhalt – offenbar steigt die Unterstützung für Biden im Segment der über 65-Jährigen sogar. Das «Wall Street Journal» spricht von Bidens Geheimwaffe gegen Trump. Denn Biden kann es sich leisten, die südlichen Teilstaaten zu verlieren, wenn er den Rostgürtel und alle anderen Teilstaaten halten kann, in welchen er 2020 siegte. Selbst dann würde er mit dem Abstand von einer Elektorenstimme siegen. Bis anhin unbedeutende Teilstaaten wie Maine und Nebraska könnten dann plötzlich zum Zünglein an der Waage werden. Das wäre ein Novum.
Was würde passieren, wenn Biden nominiert wird, aber dann kurz vor den Wahlen amtsunfähig wird und nicht antreten kann?
Der Nationale Ausschuss der Demokraten (DNC) würde dann als Parteigremium die Aufgabe haben, einen Ersatzkandidaten zu bestimmen. Federführend wäre der Parteivorsitzende Jamie Harrison, der sich mit den demokratischen Gouverneuren und der Führung im Kongress beraten würde, wer nominiert wird. Danach würden die 435 Mitglieder des DNC in einer Sondersitzung einen neuen Kandidaten oder eine neue Kandidatin wählen. Vizepräsidentin Kamala Harris würde die Regierungsgeschäfte übernehmen, aber nicht automatisch nominiert.
Szenario 2: Joe Biden gibt freiwillig auf
Was könnte Biden dazu bringen, die Kandidatur aufzugeben?
Der Druck innerhalb der Demokratischen Partei müsste massiv steigen, damit sich Biden freiwillig aus dem Rennen nimmt. Es braucht einen Konsens der Demokraten im Kongress und der Funktionäre des DNC sowie von Parteigrössen wie Barack Obama, dass Biden als Kandidat nicht mehr tragbar ist. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Geldgeber; einige haben sich bereits von Biden abgewandt, die meisten warten ab, welche Dynamik sich entwickelt. Letztlich wäre es wohl die Aufgabe der engsten Berater von Biden wie Ron Klain und Mike Donilon, den Präsidenten zu überzeugen, die Kandidatur fallenzulassen. Und last, but not least übt seine Familie und insbesondere First Lady Jill Biden den grössten Einfluss auf die persönlichsten Entscheidungen von Joe Biden aus.
Wie könnte die öffentliche Meinung die Entscheidung zu Joe Bidens Kandidatur beeinflussen?
Die Umfragen konnten Joe Biden und seine Loyalisten bisher nicht umstimmen, wohl auch, weil sie weniger dramatisch ausfielen als zunächst erwartet. Die Kampagnen-Mitarbeiter Bidens argumentieren, dass Umfragen immer Momentaufnahmen sind und zudem oft nicht präzise. Wichtiger für die Entscheidungsfindung sind etwa die Stimmen der Gouverneure aus den Swing States, die den Präsidenten nach der Debatte vor einer Niederlage warnten. Biden zeigt sich bis jetzt resistent gegenüber den besorgniserregenden Signalen aus den Swing States, aber die führenden Demokraten schauen ganz bestimmt auf die Zahlen.
Wie würde eine Ersatzkandidatur bestimmt?
Joe Biden könnte die Delegiertenstimmen, die er an den Vorwahlen gewonnen hat, freigeben und eventuell einen Wunschkandidaten empfehlen, zum Beispiel seine Vizepräsidentin. Die Zeit fehlt, um neue Vorwahlen durchzuführen. Es kursiert die Idee, nach einem möglichen Rückzug Bidens sogenannte «Mini-Primaries» durchzuführen, damit sich neue Kandidaten der Öffentlichkeit präsentieren können. Ein Kandidat braucht mindestens 300 Unterschriften, um am Parteitag im August auftreten zu können. Dieser wäre «wild», das heisst die Kandidaten würden an Ort um die Stimmen der rund 4000 Delegierten buhlen; schliesslich käme es zur Wahl eines neuen Tickets. Dass die Lage eskaliert, ist nicht im Interesse der Demokraten. Sie haben in dieser Notsituation ein zentrales Interesse daran, Einigkeit zu demonstrieren und nicht Raum für wüste Flügelkämpfe schaffen.
Was ist mit Kamala Harris? Hätte sie genügend Chancen?
Kamala Harris wird allgemein als Problem angesehen, weil sie ähnlich schlechte Umfragewerte wie Biden hat. Sie konnte sich während ihrer Amtszeit wenig profilieren. Was die Gründe dafür sind, steht zur Debatte. Das Weisse Haus hat es jedenfalls verpasst oder darauf verzichtet, Kamala Harris als Nachfolgerin aufzubauen, was angesichts des hohen Alters des Präsidenten als schwerer Fehler kritisiert wird. Trotz ihren Mängeln hat Harris wohl die besten Chancen, im Fall eines Rückzugs von Biden nominiert zu werden. Erstens wäre ihre Nominierung demokratisch legitimiert, da sie 2020 mit einem soliden Volksmehr zur Vizepräsidentin gewählt wurde. Zweitens wäre es riskant, die erste Vizepräsidentin mit afroamerikanischen und asiatischen Wurzeln zu übergehen, wichtige demokratische Wählergruppen könnten damit vergrault werden. In den amerikanischen linksliberalen Medien wird Harris als Kandidatin derzeit aufgebaut: Ihr werden Qualitäten attestiert, die sie für eine Nominierung befähigen, wie ihre Vergangenheit als harte, aber faire Generalstaatsanwältin von Kalifornien und ihre Fähigkeit, in Debatten stark aufzutreten, wie sie es in den Vorwahlen 2020 bewiesen hat. Aktuelle Umfragen geben ihr dieselben Chancen im Kampf gegen Donald Trump wie Joe Biden.
Was ist mit anderen möglichen Kandidaten wie Gavin Newsom und Gretchen Whitmer oder Joe Shapiro?
Diese Namen werden in den Medien hochgespielt, aber es fehlt jeglicher Hinweis, dass die Gouverneure aus Kaliforniern, Michigan und Pennsylvania tatsächlich antreten möchten. Gretchen Whitmer aus Michigan hat bereits gegenüber Associated Press erklärt, dass sie kein Interesse habe, ins Weisse Haus überzusiedeln. Es gibt keine Erhebungen in den Teilstaaten zu den Erfolgschancen dieser potenziellen Kandidaturen. In einer nationalen Umfrage von Reuter/Ipsos schneiden alle potenziellen Anwärter schlechter ab als Joe Biden und Kamala Harris – ausser Michelle Obama, die kein Interesse an einer Kandidatur hat. Zu bedenken ist, dass diese Namen nicht national bekannt sind; ob ein kalifornischer Gouverneur die Latinos in Arizona und die weissen Arbeiter in Wisconsin begeistern kann, müsste sich noch erweisen.
Szenario 3: Joe Biden wird gezwungen auszuscheiden
Was geschieht, wenn Joe Biden sich gegen den Willen der Demokraten weigert, die Kandidatur niederzulegen?
Dann wird es kompliziert. Laut den Regeln der Demokratischen Partei müssen die nach den Vorwahlen Biden zugeteilten Delegierten für dessen Nominierung stimmen. «Die Delegierten müssen nach bestem Wissen und Gewissen die Meinung derjenigen widerspiegeln, die sie gewählt haben», heisst es da. Allerdings lässt die vage Formulierung der Regel den Demokraten doch ein Schlupfloch offen, um notfalls «treulos» werden zu können. 739 sogenannte Superdelegierte, unter ihnen Amtsträger und hohe Parteifunktionäre, können ihre Stimmen frei vergeben. Ein sogenannter «wilder» Parteitag ist also durchaus denkbar, an dem eine neue Kandidatur ausgehandelt wird.
Gibt es historische Beispiele für einen «wilden» Parteitag?
Eigentlich waren alle Parteitage vor 1970 «wild»; die Nominierungen wurden direkt durch die Parteidelegierten vorgenommen und nicht in Vorwahlen demokratisch bestimmt wie heute. Diese waren damals vor allem ein Schaufenster für die Kandidaten, um sich innerhalb der Partei zu profilieren. Am Parteitag von 1968 in Chicago eskalierte die Lage; er dient den Demokraten heute als abschreckendes Beispiel. Der damals amtierende Präsident Lyndon B. Johnson stieg im März unerwartet aus dem Rennen für seine Wiederwahl, und im Juni dieses «annus horribilis» wurde der populäre Gegenkandidat Bobby Kennedy ermordet. Am Parteitag brachen offene Flügelkämpfe aus, während sich auf der Strasse die Gegner des Vietnamkriegs und die Polizei Strassenschlachten lieferten. Am Ende siegte der Republikaner Richard Nixon.
Wenn Biden nicht aufgeben will: Könnte der 25. Verfassungszusatz zum Einsatz kommen?
Die Idee wird in konservativen Medien derzeit rege diskutiert. Der republikanische Speaker im Repräsentantenhaus, Mike Johnson, hat das Biden-Kabinett aufgefordert, die Anwendung des 25. Zusatzartikels der amerikanischen Verfassung zu prüfen. Dieser regelt die vorzeitige Beendigung einer Präsidentschaft aufgrund von Krankheit, Tod und Amtsunfähigkeit. Im letzteren Fall können der Vizepräsident und die Mehrheit des Kabinetts einen Präsidenten absetzen. Der Vorschlag ist vor allem Wahlkampfgetöse und spaltet selbst die Republikaner. Donald Trump hat sich bisher nicht dazu geäussert. Während dessen Präsidentschaft ertönten seitens der Demokraten ähnliche chancenlose Forderungen.
Welche Auswirkungen hätte eine Absetzung von Joe Biden auf die Wahlkampffinanzierung?
Das ist ein kritischer Punkt. Die Wahlkampfkasse von Joe Biden und Kamala Harris kann nicht einfach geplündert werden. Die Biden/Harris-Kampagne hat bisher rund 230 Millionen Dollar gesammelt, mehr als die Hälfte des Geldes ist bereits an die Partei und demokratische Organisationen verteilt worden, Ende Mai befanden sich noch rund 91 Millionen auf dem Konto der Biden/Harris-Kampagne. Rechtliche und finanzielle Gründe sprechen klar gegen eine Ersatzkandidatur ohne die Zustimmung von Joe Biden und begünstigen im Fall seines freiwilligen Rückzugs die Option Kamala Harris.







