Die Grünen-Parteivorsitzende Ricarda Lang und der SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert erreichten höchste Ämter und fielen tief. Grosse Medienhäuser sprechen von einem Verlust. Ist es das wirklich?
«Die zwei grössten Talente der amtierenden Regierungsparteien räumen das Feld», jammerte unlängst die Hamburger Wochenzeitung «Die Zeit». Gemeint waren die 30-jährige Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang und der 35-jährige SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert, die beide in den vergangenen Wochen den Rückzug von ihren Ämtern bekanntgegeben hatten.
Lang und ihr Co-Vorsitzender Omid Nouripour gaben auf, um den Grünen einen «Neuanfang» nach drei spektakulär schlechten Landtagswahlergebnissen zu ermöglichen. Kühnert ging aus gesundheitlichen Gründen, wie er sagt. Die «Zeit»-Autorin stand mit ihrem extrem positiven Urteil über die beiden Berufspolitiker nicht allein, viele andere Journalisten schrieben Ähnliches.
Es ist eine interessante Frage, worin genau Langs und Kühnerts übergrosses Talent bestanden haben soll: Beide Parteien, für die sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten Verantwortung trugen, wurden in der Zeit ihrer Amtswaltung nicht stärker, sondern schwächer.
Die Berliner Regierungskoalition, der sie angehören, hat es geschafft, binnen drei Jahren mehr politisches Vertrauen zu verspielen als jede Vorgängerregierung. Die einst stolze Volkspartei SPD muss, zumindest in Ostdeutschland, inzwischen dafür dankbar sein, wenn sie bei Landtagswahlen nicht an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert. Und die Grünen können sich nach gegenwärtiger Umfragelage von jeder vorübergehend gehegten Hoffnung verabschieden, in absehbarer Zeit einen Bundeskanzler zu stellen.
«Das Schlimmste» für SPD und Grüne?
Erfolg definiert man so eher nicht. Talent drückt sich gemeinhin anders aus. Es kann aber sein, dass grosse Teile des Publikums ohnehin etwas anderes sahen als die rot-grün beseelten Medienleute: nämlich zwei mitteljunge Parteifunktionäre ohne abgeschlossenes Studium, die niemals ausserhalb der Politik gearbeitet hatten, denen Berufs- und Lebenserfahrung noch weitgehend fehlten. Die aber auf vielen Kanälen umfangreiche Gelegenheit bekamen, ihren Mitbürgern die Welt zu erklären. Und die an hochwichtigen Runden im Bundeskanzleramt teilnahmen, um über die Geschicke des Landes mitzuentscheiden.
Vielleicht ist ihr Abtritt nicht, wie die «Zeit» meint, das «Schlimmste für SPD und Grüne, was passieren konnte» – sondern ein symbolischer Moment, der illustriert, was im deutschen Parteiensystem gerade schiefläuft.
Früher bestand der Verdacht, der sich gegen die Parlamente richtete, vor allem darin, dass in ihnen zu viele Lehrer und sonstige Beamte sässen. Heute wäre man über Fachleute dieser Art schon froh; stattdessen gibt es immer mehr Berufspolitiker ohne ausserpolitische Erfahrung.
Eine Studie des Berliner Instituts für Parlamentarismusforschung zeigte vor wenigen Jahren, dass sich zum Beispiel die Bundestagsabgeordneten immer häufiger aus dem Feld der aktiven Parteimitglieder mit (zeit)intensivem politischem Engagement rekrutieren. Legt man nur interne Kriterien des professionellen Politikbetriebs an, ist das logisch, denn sie verstehen in der Tat am meisten davon, was in ihrer Partei gefragt ist. Aber in der Gesellschaft?
Zu Tode gerittene Apparatschik-Formeln
Wer sich, wie Kühnert oder Lang, seit Studientagen in politischen Jugendorganisationen und Parteigremien tummelt, erwirbt durchaus spezifische Qualifikationen, sprich den richtigen Jargon, verfügt über ein akzeptiertes Repertoire an «Positionen» und beherrscht Strategien, um Konflikte aufzulösen und Mehrheiten zu organisieren.
Diese Kenntnisse sind durchaus wertvoll – politische Quereinsteiger scheitern so oft, weil es ihnen genau daran fehlt. Gleichzeitig führen sie aber zu einer eigenartigen Déformation professionelle, zu einer hermetischen Sprache der Formelkompromisse, die den Bezug zur Wirklichkeit, wie alle anderen sie erleben, verlieren.
Dabei entstehen dann Formulierungen wie «sich auf den Weg machen und das Land voranbringen». Oder auch die von den Berliner Koalitionären zu Tode gerittene Apparatschik-Formel, ein strittiger Punkt sei nunmehr «geeint». In einer äusserst wohlwollenden Fernsehdokumentation nach ihrem Rückzug sinnierte Ricarda Lang darüber, dass man so viel Arbeit investiere, um sich mit den Partnern abzustimmen, «dass am Ende keiner mehr versteht, was man sagen will». Allerdings nicht, so möchte man als externer Beobachter hinzufügen, weil die Gedanken und Ergebnisse intellektuell so anspruchsvoll wären, sondern weil sie eben nur eine Binnenrealität abbilden.
Dass die deutschen Bundeskanzler der letzten zwei Jahrzehnte selbst keine Kinder haben, mag Zufall sein, aber dieses Stück Lebenspraxis mussten und müssen sie sich auf andere Weise aneignen. Nicht unproblematisch sind auch die Privilegien, die Spitzenpolitiker geniessen: In einer Welt, in der der ÖPNV funktioniert und der Strassenverkehr fliesst, ist etwa der Bundestags-Fahrdienst für Abgeordnete kein Grund zur Sorge. Aber in einer Welt mit prekärer Verkehrsinfrastruktur führt der regelmässige Transport in Limousinen zu Wahrnehmungsverzerrungen bei den Verantwortungsträgern.
Überschaubare Berufsbiografien
Auch in der Vergangenheit gab es die Versuchung, auf dem Weg in die Profipolitik Abkürzungen zu nehmen und sich lästige Examen zu sparen. Etliche bekannte Politiker der Generation Olaf Scholz, die 1998 oder Anfang der 2000er Jahre in den Bundestag kamen, haben sehr überschaubare Berufsbiografien oder machten mandatsbegleitende Studienabschlüsse, so wie der heutige sozialdemokratische Arbeitsminister Hubertus Heil.
Allerdings dominierte in dieser Generation immer noch die Vorstellung, man solle doch besser einen Beruf erlernt oder zu Ende studiert haben. Verantwortungsvolle Fraktionsvorsitzende drangen darauf, der Nils oder der Sebastian möchten doch bitte noch ihren Abschluss machen. Die regulative Idee, dass es auch ein bisschen auf die Aussenwirkung ankommt, wird indes schwächer – und die Vorstellung, beruflich komplett von der Politik beziehungsweise von der Gnade der Parteitage abhängig zu sein, verliert offenbar ihren Schrecken.
Natürlich findet man Beispiele für begnadete Politiker, die nur über geringe formale Qualifikationen verfügten: Der ehemalige grüne Vizekanzler und Aussenminister Joschka Fischer war von der Ausbildung her nurmehr Sponti, Taxifahrer und Strassenkämpfer – und trotzdem ein grosses Politiktalent.
Künstler wie Fischer agierten allerdings in einer Zeit, als die Apparate in den Ministerien noch mit vollständig ausgebildeten Juristen und Verwaltungsbeamten besetzt waren: Sie konnten auch die Ideen von Sponti-Ministern in vollzugsfähige Gesetze überführen. Und beamtete Staatssekretäre hatten genug Kompetenz und Selbstbewusstsein, um gelegentlich zu sagen: Herr Minister, das geht nicht.
Die Partei als Unternehmen, die Weltanschauung als Produkt
Heute werden Ministerien bis hinunter auf die Referatsleiterebene mit Parteigängern der gerade aktuellen Amtsinhaber besetzt. Häufig umgeht man dafür die formalen Einstellungsvoraussetzungen – und manchmal kommt es dann zu handwerklichen Katastrophen, wie etwa beim Heizungsgesetz aus dem Hause von Wirtschaftsminister Robert Habeck.
Der Trend zum frei schwebenden Berufspolitikertum vollzieht sich nicht isoliert, sondern korrespondiert mit anderen Entwicklungen, quasi Gegenbewegungen zum etablierten Politikbetrieb. Ein neuer Typ politischer Organisationen beginnt kenntlich zu werden, in Deutschland mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), in den Niederlanden zum Beispiel mit der Einpersonenpartei von Geert Wilders: die politische Partei als eine Art Unternehmen, bei dem sich Mitglieder bewerben müssen und das keine Mitmachdemokratie anbietet, sondern ein präzise designtes Weltanschauungsprodukt. Dann kommt es nur noch auf die eine charismatische Führerpersönlichkeit an. Und Charisma übertrumpft selbstverständlich jede Ausbildung.