Eine Geschichte über russische Spione und ihre Jäger.
Am 3. Januar wird in der estnischen Stadt Tartu ein Professor von der Sicherheitspolizei verhaftet. Ihm wird vorgeworfen, für Russland spioniert zu haben.
Wenige Wochen später decken Journalisten auf, dass eine lettische EU-Parlamentarierin zwanzig Jahre lang mit dem russischen Geheimdienst FSB kooperiert haben soll.
Am 6. Februar weist Estland das Oberhaupt der orthodoxen Kirche aus. Der Metropolit pflegte enge Verbindungen zum Kreml und hatte laut estnischen Behörden den russischen Angriffskrieg mehrfach verteidigt.
Der Kreml hatte schon immer grosses Interesse an Informationen aus dem Westen. Seit Russland die Ukraine angegriffen hat, ist es weiter gestiegen. Nach dem Kriegsbeginn wurden in Europa über 600 russische Diplomaten ausgewiesen. Viele von ihnen sollen den diplomatischen Status genutzt haben, um ihre Spionageaktivitäten zu tarnen, schreibt der estnische Inlandgeheimdienst in seinem Jahresbericht.
Seit die diplomatische Spionage beendet wurde, versuchen russische Geheimdienste verstärkt, über andere Wege an Informationen zu gelangen.
Gegen seine Nachbarländer geht der Kreml besonders aggressiv vor. Arnold Sinisalu, der die estnische Sicherheitspolizei von 2013 bis 2023 geleitet hat, schätzt, dass allein in Estland über 100 russische Spione und Agenten arbeiten. Die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas warnte in einem Interview mit der britischen Zeitung «The Times» davor, dass Russland die Nato an ihrer Ostflanke in drei bis fünf Jahren angreifen könnte. Die Vorarbeit für militärische Aggressionen leisten Geheimdienste.
Die Geschichte des Professors, der Politikerin und des Geistlichen zeigt nicht nur, wie Männer und Frauen in die Fänge des Kremls geraten. Sondern auch, wie Russland systematisch versucht, Wissenschaft, Politik und Kirche im Baltikum zu unterwandern.
Der Professor
Professor Wjatscheslaw Morosow hatte eine fast perfekte Tarnung. Seit 2010 forschte und unterrichtete er am Institut für Politikwissenschaften der Universität Tartu. Sein Spezialgebiet waren die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Russland. Er galt als einer der angesehensten Experten in seinem Bereich und hatte sich über die Jahre einen Ruf als Kreml-Kritiker erarbeitet.
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine verurteilte er öffentlich. Am 27. Februar 2022 – drei Tage nach dem Überfall – schrieb er auf Facebook einen Post: «Es gibt keine Rechtfertigung für Russlands Aggression gegen die Ukraine. Mein Herz ist bei den Menschen in der Ukraine, und es ist voller Schmerz. Der Krieg muss jetzt beendet werden.»
Eine Person, die Morosow beruflich nahestand, schreibt der NZZ: «Ich bin sehr überrascht, dass er ein Spion gewesen sein soll. Seine Haltung gegenüber Russland war kritisch, und sie stand im Einklang mit seiner Arbeit.» Behalten die estnischen Ermittler recht, stand Morosow zu Beginn des Krieges bereits seit Jahren im Dienst der russischen Geheimdienste.
Margo Palloson, Generaldirektor des estnischen Inlandgeheimdienstes, sagte dem Sender ERR, dass Morosow auf seinen Reisen nach Russland Informationen an dortige Geheimdienste weitergegeben habe. Er hatte Familie in Russland und reiste regelmässig in die Heimat, um Angehörige zu besuchen. Wjatscheslaw Morosow sitzt derzeit in Tallinn in Untersuchungshaft. Er wurde noch nicht verurteilt. Für ihn gilt die Unschuldsvermutung, doch ohne schwerwiegende Beweise wäre er kaum verhaftet worden.
Weshalb aber sollte sich ein angesehener Wissenschafter wie Morosow auf ein doppeltes Spiel einlassen? Und wieso sollten russische Geheimdienste überhaupt einen Politikprofessor rekrutieren wollen?
Weil das Verfahren läuft, will die Sicherheitspolizei keine Details über Morosows Fall bekanntgeben. So weiss man zum Beispiel nicht, wann genau er rekrutiert wurde. Unklar ist auch, für welchen Geheimdienst er gearbeitet haben soll. Für den Kreml arbeiten neben dem Inlandgeheimdienst FSB der Militärgeheimdienst GRU und der Auslandgeheimdienst SWR.
Morosow wurde 1972 in der Kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik geboren. Als russischer Staatsangehöriger konnte er keinen Zugang zu estnischen Staatsgeheimnissen haben. Sein Auftrag musste also ein anderer sein.
Einer, der weiss, welche Funktion Morosow gehabt haben könnte, ist Arnold Sinisalu. Ende Januar steht der ehemalige Spionenjäger vor einem stattlichen gelben Gebäude im Universitätsviertel von Tartu. Hier ging Morosow 14 Jahre ein und aus. Der Professor könne für die Russen von vielerlei Nutzen gewesen sein, sagt Sinisalu.
Das estnische Aussenministerium sowie der estnische und der norwegische Forschungsrat haben Morosows Forschung finanziell unterstützt. Die Forschungsräte unterstehen der jeweiligen Regierung. Als Geldgeber dürften die Staaten Interesse an Morosows Ergebnissen gehabt haben. Ob und wie oft sich Morosow mit Ministern getroffen hat, ist nicht bekannt. Falls es aber zu solchen Treffen gekommen sei, seien diese für Russland von Interesse, sagt Sinisalu. «Wer stellt welche Fragen? Wer sind die wichtigsten Berater des Ministerpräsidenten? Wer hat welche Schwächen? All diese Informationen können bei zukünftigen Verhandlungen helfen.»
Morosows Auftrag könnte aber auch darin bestanden haben, Informationen über seine Studierenden zu sammeln, sagt Sinisalu. Der Professor pflegte zu diesen eine enge Beziehung. Die Auskunftsperson aus seinem beruflichen Umfeld schreibt: «Er war vertrauenswürdig und zuverlässig – wenn ich ihn um ein Feedback, ein Referenzschreiben oder eine Beratung gebeten habe, nahm er sich immer Zeit dafür.» Hat Morosow diese Nähe gesucht, um heimlich Profile von jungen Akademikern anzulegen für die russischen Geheimdienste?
Neben seinem möglichen Auftrag sind auch die Motive des Professors unbekannt. Laut Sinisalu wissen die russischen Geheimdienste alles über ihre Zielpersonen und nutzen deren Schwächen skrupellos aus. «Die Russen sind Meister im Manipulieren: Warst du bei einer Prostituierten, erpressen sie dich. Hast du Spielschulden, bieten sie dir Geld an. Und wenn du einen Geltungsdrang hast, versprechen sie dir Ruhm.»
Und dann gebe es noch die Ideologen: «Die besten Agenten werden auf Basis von gemeinsamen Interessen rekrutiert.» Es sind Personen wie Tatjana Zdanoka.
Die Politikerin
Tatjana Zdanoka hat ihre Gesinnung nie verborgen. Sie wurde 1950 als Tochter jüdisch-russischer Eltern in Riga geboren – in der Zeit, als Lettland von der Sowjetunion okkupiert war. Der Kampf gegen die Unabhängigkeit Lettlands hat Zdanoka in den achtziger Jahren politisiert. Sie trat der Kommunistischen Partei bei und wurde zu einer der Führungsfiguren der prosowjetischen Bewegung in Lettland.
Trotz ihrer politischen Haltung erhielt Zdanoka fünf Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion die lettische Staatsbürgerschaft. Sie hatte beweisen können, dass Vorfahren von ihr bereits vor der sowjetischen Okkupation in Rezekne, einer Stadt im Osten Lettlands, gelebt hatten und dass sie somit nicht zu den Besetzern gehörte.
Der lettische Pass änderte nichts an Zdanokas politischer Haltung. 2004 wurde sie erstmals in das Europäische Parlament gewählt. Dort war sie fortan die Stimme Moskaus. Der Kreml war mit ihrer Arbeit so zufrieden, dass der russische Botschafter in Riga bei den Europawahlen 2009 für ihre Wiederwahl aktiv lobbyierte. Zdanoka konnte ihren Sitz behalten.
Die Nähe Zdanokas zum Kreml war über all die Jahre offensichtlich. Doch wie eng sie mit Moskau tatsächlich verbandelt war, wurde erst im Januar publik. Die unabhängige russische Internetzeitung «The Insider» enthüllte Zdanokas Verbindungen zum russischen Geheimdienst FSB. Die Recherche stützt sich auf geleakte E-Mails von Zdanoka und ihren zwei Führungsoffizieren. In der Korrespondenz berichtet Zdanoka über ihre Arbeit im Europäischen Parlament, teilt nicht veröffentlichte Informationen über Konferenzen und arrangiert physische Treffen mit ihren Betreuern. Der erste erwiesene Kontakt mit dem FSB fand 2005 statt.
In den letzten Jahren trat Zdanoka öffentlich als Kreml-Befürworterin auf. 2014 reiste sie in die Ukraine. Russland hatte soeben die Krim rechtswidrig annektiert und veranstaltete eine Volksabstimmung über den Status der Halbinsel. Zdanoka nahm als «internationale Beobachterin» an der international nicht anerkannten Abstimmung teil. Im März 2022 war sie eine der 13 EU-Parlamentarier, die sich weigerten, Russlands Angriff auf die Ukraine zu verurteilen.
Ins EU-Parlament gewählt wurde Zdanoka von den ethnischen Russinnen und Russen, die einen Viertel von Lettlands Gesamtbevölkerung ausmachen. Zdanoka hatte sich mit ihrem Engagement gegen die angebliche Diskriminierung der Minderheit bei dieser beliebt gemacht. Bereits 2015 wurde bekannt, dass ihre Organisation «Lettland ohne Nazis» vom Kreml finanziert wurde. Sinisalu sagt: «Russland versucht die Russischsprachigen über die Medien und andere Wege zu manipulieren, um so Wahlen zu beeinflussen.»
In Estland geschieht die Einflussnahme auch über die Estnisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats. Metropolit Jewgeni, der 2018 von Moskau nach Tallinn als Kirchenoberhaupt entsandt wurde, verstand sich nicht nur als Diener Gottes, sondern auch als Mann des Kremls.
Der Geistliche
Metropolit Jewgeni predigte nicht nur das Wort Gottes. Nachdem Russland die Ukraine angegriffen hatte, verurteilte Jewgeni den Krieg zwar als solchen, weigerte sich jedoch, den Kreml als Schuldigen zu benennen. In einem Interview mit dem estnischen Sender ERR sagte er im März 2022, dass er nicht wisse, ob er die «Operation» unterstütze, da er keine Ahnung von Politik habe. «Wir Kirchenleute sollten uns nicht in diese Dinge einmischen, weil wir es nicht wissen.»
Dabei ist die russisch-orthodoxe Kirche der religiöse Arm des Kremls. Wann immer nötig, liefert sie Rechtfertigungen für militärische oder politische Entscheide der russischen Führung. Der estnische Ableger – die Estnisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats – untersteht der Kirche in Russland. Geleitet wird diese von Kirill I., einem Geistlichen, der früher für den sowjetischen Geheimdienst KGB arbeitete. Als russische Soldaten in der Ukraine einmarschierten, forderte Kirill die Gläubigen dazu auf, sich hinter Putin zu stellen. Jewgeni gehorchte.
Es ist schwer zu sagen, wie gross der Einfluss der Kirche auf die Russinnen und Russen in Estland tatsächlich ist. Laut Arnold Sinisalu ist nur ein kleiner Teil der russischen Minderheit eng mit der Kirche verbunden, obwohl sich die meisten Russinnen und Russen als orthodox bezeichnen.
Metropolit Jewgeni sagte später, dass er die Auffassung des Patriarchen Kirill über den Krieg nicht teile. Die estnische Polizei- und Grenzschutzbehörde ist jedoch der Auffassung, dass Jewgeni den Aggressor Russland in seinen öffentlichen Reden unterstützt hat. Sie hat die Aufenthaltsbewilligung von Jewgeni, mit bürgerlichem Namen Waleri Reschetnikow, deshalb nicht verlängert. Er wurde am 6. Februar des Landes verwiesen.
Wem kann man noch trauen, wenn selbst Professoren, Politikerinnen und Geistliche in Wirklichkeit für den Kreml arbeiten? Die Fälle von Wjatscheslaw Morosow, Tatjana Zdanoka und Metropolit Jewgeni befeuern das Misstrauen gegenüber der russischen Minderheit im Baltikum.
Obwohl viele Agenten des Kremls entweder russische Staatsbürger oder ethnische Russen sind, warnt Sinisalu davor, die Minderheit unter Generalverdacht zu stellen. Nur wenige seien für die Zwecke Putins nützlich, und nur ein kleiner Teil befürworte die russische Politik. «Der Kreml spricht von den Russen gerne als homogene Gruppe. Aber das ist Blödsinn – das Einzige, was sie eint, ist ihre Sprache.»
Um eine Person überhaupt rekrutieren zu können, müssten die Geheimdienste mit ihr in Kontakt kommen. Die russischen Grenzbeamten sind Teil des Inlandgeheimdienstes FSB. Sinisalu sagt: «Je öfter man nach Russland reist, desto grösser wird das Risiko, in die Fänge der Geheimdienste zu geraten.»
In einer Sache ist sich der ehemalige Spionenjäger sicher: «Man kann noch so viele Spione fangen – es kommen immer neue nach.» Wer mit dem Kreml einen Pakt eingeht, kann nie mehr zurück in sein altes Leben. Das zeigen auch die Fälle der drei mutmasslichen Agenten.
Wjatscheslaw Morosow beendete am 11. Januar seinen Arbeitsvertrag mit der Universität Tartu.
Die lettische Sicherheitspolizei hat im März ein Strafverfahren gegen Tatjana Zdanoka eröffnet.
Metropolit Jewgeni hat bereits angekündigt, die Estnisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats fortan von Moskau aus zu führen.