Abertausende von Wehrpflichtigen haben in Thun schon den Kummer des Militärdienstes hinuntergespült. Heute kann man das mit erstklassigen Cocktails tun – in der «Atelier Bar».
Das schmucke Städtchen, in dem der Falter diesmal landet, weckt gemischte Erinnerungen. Hier fristete er einst siebzehn Wochen lang sein Dasein als Panzerrekrut auf dem grössten Waffenplatz der Schweiz. Ab und zu schrie ein Vorgesetzter «Ruhn!» in Thun, gelegentlich erteilte er gar die Erlaubnis zum Ausgang, wo man den Kummer mit Bier hinunterspülte. Dabei sagt doch dem Falter ein Cocktail mehr zu.
Der «Russe», damals als eher imaginäres Feindbild vor Augen geführt, wird inzwischen als realistischere Bedrohung gesehen, der Ruf nach mehr helvetischem Wehrwillen (und mehr Panzern) wird laut. Das Städtchen im Bernbiet jedoch hat sich längst zum beliebten Ausflugsziel nicht nur für Truppenangehörige gemausert. In Thun tut sich etwas.
Dafür steht die «Atelier Classic Bar» am malerischen Rathausplatz. Vor dem Eingang rauchen an dem Abend zwei Soldaten, drinnen an der Theke trinken ihre Kameraden im Vierfruchtpyjama. Sie haben das Glück, im Ausgangsrayon eine der besten Cocktailbars des Landes zu wissen, geöffnet täglich bis kurz nach Mitternacht. Diese hat alles, was eine klassische Bar auf Topniveau ausmacht: stimmige Atmosphäre, eine fachkundige, freundliche Crew mit Sinn für Details und eine grosse Auswahl an erstklassigen Drinks mit der richtigen Balance aus Bewährtem und Innovation.
Ein Flügeltor aus Holz führt zum hohen Raum mit eingezogenem Zwischenboden, der Platz für eine Galerie unter dem Deckengewölbe bietet. Dort oben bestellt der Falter mit seiner Begleitung ausgefeilte Signature Drinks (Fr. 17.–), jeder in der passenden Glasform serviert und mit einer literarischen Miniatur auf der Karte eingeführt. Diese umfasst 70 Seiten, kann laut Triggerwarnung «Spuren von Sarkasmus, Erotik und Haselnüssen» enthalten und ist in 19 Kapitel unterteilt. Das Herzstück bilden Highballs und Cocktails zu fairen Preisen, Klassiker ebenso wie Eigenkreationen mit hausgemachten Infusionen und Essenzen.
Eve’s Desire mit Holunderblüte, Apfel, weissem Pfirsich und Limette entfaltet seine floral-fruchtige Note, ohne zu wuchtig zu sein. In The Secret Scent of Cleopatra kommen Champagner, Apfellikör, Wodka und Grand Marnier zum Rendez-vous von hinreissend herber Frische, die mit jedem Schluck noch gewinnt (bei schlechten Drinks ist’s umgekehrt). Die Präsentation mit gefächertem Apfelschnitz, Traube und einem Zweiglein Schleierkraut ist so schön, wie es die Namenspatronin gewesen sein soll.
Mit dieser Kreation gewann Ivan Urech bei den World Cocktail Championships 2023 in Rom den Titel fürs beste Design. Er hat eine Kellnerausbildung in Kandersteg absolviert, war Commis de Bar im Grand-Hotel «Victoria Jungfrau» in Interlaken, mixte in Hawaii. Nun ist er mit 45 Jahren das Gesicht dieser Bar, berät in seinem Berndeutsch so humorvoll wie kompetent und bezeichnet sich selbst als Kellner und Gastgeber, der schaue, dass alle zufrieden seien. Von Extrawünschen lässt er sich gerne spontan inspirieren.
Hier würde der Falter, wenn es danach einen Panzer zu steuern gälte, sogar Mocktails bestellen. Sie bestünden garantiert nicht bloss aus lieblos zusammengeschütteten 0,0-Prozent-Imitaten von Spirituosen wie vielerorts. Seine Gefährtin wählt aus der Sektion «Low Drinks» mit tiefem Alkoholgehalt den Yuma (Fr 13.–): Umeshu, Hibiskus, weisser Pfirsich, mit etwas geklärter Säure versetzt. Auch das Eis, keine Nebensache in guten Bars, ist mit Bedacht gewählt: Der massive Kubus hält das Getränk kühl, ohne es zu verwässern. Darauf liegt eine bevorzugte Dekoration des Hauses: ein Kaffirlimettenblatt.
Diese Bar verbindet das pralle Leben mit einem Hauch Alchemie und einer Prise Cinephilie: Drinks wie Mango unchained lassen ein Faible für die Filme von Quentin Tarantino erahnen, und tatsächlich kommt auch der legendäre Schwertschmied aus «Kill Bill» vor: Der nach ihm benannte Hattori Hanzo (Fr. 17.–) ficht mit hinreissend feiner Klinge, im karierten Keramikschälchen kommt sozusagen ein flüssiges Dessert mit Gin, Mango, Kaffir Sesamöl, schaumig wie eine Zabaglione.
Die Liebe der Betreiber zum Wort schlägt sich auf der Karte etwa in einer Strophe aus «The Bartender» des Sängers Blake Shelton nieder, die fast schon zur Papstwahl passt: «I’m a bartender. I pour the drinks, laugh with the sinners and cry with the saints. And even if they don’t remember, I try to make their bar tender.» Auch der gute alte Wilhelm Busch ist mit einem Vers präsent: «Es ist der Brauch von alters her: Wer Sorgen hat, hat auch Likör.» Der Umkehrschluss muss nicht stimmen.
Atelier Classic Bar
Rathausplatz 3
3600 Thun
Telefon 033 223 75 67
Der Nachtfalter ist stets unangemeldet und anonym unterwegs und begleicht am Ende stets die Rechnung. Sein Fokus liegt auf Bars in Zürich, mit gelegentlichen Abstechern in andere Städte im In- und Ausland.
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