Die Stadt wächst – über ihre Grenzen hinaus. Eine Reise zu den Gewinnern und den Verlieren dieser Entwicklung.
In der Stadt verkauft der Beizer Nunzio Gambino immer weniger Gipfeli, während Murti Ayverdi mit edlem Kebab das Geschäft seines Lebens macht. In der Agglo spricht Moritz, tätowiert und oben ohne, über die Schönheit seiner Betonsiedlung.
Und draussen, auf dem Land, kämpft der Wirt Konrad Moor um die Seele seines Dorfes, während ein Bauernpaar sich im Paradies wähnt.
Rund zwanzig Kilometer Asphalt verbinden Zürichs Gegenwart mit seiner Zukunft. Das hektische Herz der Stadt mit den Baukränen der Vororte und den Dörflein, wo Bauernhäuser von Wohnblöcken gefressen werden.
Die Reise führt der Wehntalerstrasse entlang, der längsten Strasse der Stadt, vom Milchbuck im schicken Kreis 6 bis nach Niederweningen an die Kantonsgrenze. An dieser Strasse wird das grösste ÖV-Projekt der Stadt gebaut, das 450 Millionen Franken teure Tram Affoltern. Auf einem Areal in Regensdorf entstehen 600 Wohnungen; es ist das grösste Neubaugebiet des Kantons. Dahinter liegt eine ländliche Idylle, durch die sich zweimal am Tag eine gigantische Blechlawine schiebt.
Es ist ein Roadtrip entlang eines Stadt-Land-Grabens, den es so immer weniger gibt. Weil das Städtische sich nach aussen frisst, die Grenze zum Ländlichen zerfasert – und die Menschen entlang dieser Achse immer mehr vor denselben Problemen stehen.
Die Wehntalerstrasse beginnt am Milchbuck im Kreis 6: Hier heisst kalter Kaffee «Iced Latte» und kostet 6 Franken 60. Niederweningen ist ein ferner Ort.
I.
Die Stadt frisst ihr Aussenquartier
Kilometer 1: Ein Secondo verliert sein Quartier
Vor dreissig Jahren, als Nunzio Gambino seine Quartierbeiz eröffnete, verkaufte er jeden Morgen sechzig Gipfeli und fünfzig Panini. Die Leute standen Schlange vor der Cafeteria Jeunesse, einem Ort, wie es ihn in Zürich kaum mehr gibt. Geöffnet von 7 bis 18 Uhr, 19 Franken für das Mittagsmenu mit Suppe und Salat. Stammkunden, den ganzen Tag.
Aber die Gipfeli werden weniger. Heute Morgen hat er fünfzehn verkauft. Panini: gar keine. Über Mittag ist die Situation noch etwas besser: Da hält ihm die langjährige Kundschaft die Treue.
«Das hier ist ein schwieriges Quartier», sagt Gambino. «Es dauert, bis die Leute dich kennen, dir vertrauen.» Und es verändert sich: mehr Neubauten, höhere Mieten, weniger Büezer, die jeden Morgen kommen, um sich zu verpflegen.
Nunzio Gambino blickt skeptisch in die Zukunft: Er fürchtet, dass seine Kunden noch weniger werden, wenn durch sein Quartier dereinst ein Tram fährt.
Nunzio Gambino bleibt, überlebt dank der Wehntalerstrasse, dieser «Autobahn», wie er sie nennt. Sie sei in den letzten Jahrzehnten zwar lauter und lauter, voller und voller geworden. Doch sie bringe ihm seine Bekannten und Stammkunden, von überallher.
Gambino, Sohn eines Maurers und einer ABB-Arbeiterin, wächst zwischen Sizilien und der Schweiz auf. «Mal hier, mal dort, wie ein Koffer wurde ich hin- und hergebracht», sagt er. Im aargauischen Lengnau wird er gross, ganz am anderen Ende der Wehntalerstrasse.
Dort, auf dem Land, wird Nunzio Gambino, der Sohn italienischer Gastarbeiter, als «Tschingg» beschimpft. «Bruto» sei es gewesen, hässlich. Mit 15, als Italien im Final der Fussball-WM steht, klebt er eine kleine Italien-Flagge ins Fenster. Tags darauf befiehlt die Gemeinde per eingeschriebenem Brief das Abhängen. Fahren Nunzio und sein Cousin mit dem Töffli durch das Dorf, fährt die Polizei hinterher.
Maurerlehre, vom Vater aus der Wohnung geschmissen, Tage auf dem Platzspitz, wo er mit dem Verteilen von sauberen Nadeln etwas Geld verdient, dann Unterschlupf in einem Restaurant, wo er aushilft, dann kocht, serviert und merkt: «Das ist mein Beruf.»
Nun ist Nunzio Gambino 55. Der geplante Umbau der Wehntalerstrasse macht ihm Sorgen. Die Verkehrsberuhigung, das Tram, keine Parkplätze mehr vor dem Lokal: Er befürchte einen Verlust von Kundschaft, sagt Gambino. Und doch glaubt er weiterhin an seine Beiz und seine Zukunft. Wegen seiner treuen Gäste, von denen viele längst zu Freunden geworden sind. Und weil er es immer irgendwie geschafft hat.
Gemäss seiner Erfahrung komme das meiste sowieso anders, als man es geplant habe. Seine Eltern hätten stets gesagt, sie würden nur kurz in die Schweiz kommen, nun seien sie immer noch da. «Ich aber werde wahrscheinlich in Italien sterben», sagt Gambino. «Mit meiner Rente kann ich mir hier das Leben als Pensionär sowieso nicht leisten.»
Kilometer 2: Drei Brüder gründen ein Kebab-Imperium
Als Murti Ayverdi und seine zwei Brüder 2002 den «Kebab-Treff» eröffnen, haben sie eine Mission. «Der Kebab hatte damals einen schlechten Ruf», sagt Ayverdi. «Wir wollten das ändern.»
Mitten in Zürich Affoltern, wo die Wehntaler- und die Regensbergstrasse zusammenkommen, steht ihre Kebab-Bude, anfangs eine von vielen hier. Doch dann beginnen die Brüder, den traditionsreichen Kebab aus Anatolien – der Heimat ihrer Eltern – weiterzuentwickeln.
Murti Ayverdi kam 2002 an die Wehntalerstrasse, um etwas auszuprobieren: Kebab mit Ei und Käse. Nun eröffnet er bald sein viertes Restaurant.
Ayverdi garniert das Sandwich mit Ei und Käse und wird dafür belächelt. «Für viele Kebab-Betreiber war das ein No-Go, heute machen sie es alle», sagt er. Denn: Den Gästen habe das Neue, Experimentelle geschmeckt. «Wir wollten frech sein», sagt Ayverdi. «Wir wollten etwas wagen.»
Die Brüder haben mit ihrem Konzept Erfolg – vor allem bei der Schweizer Kundschaft. «Viele haben gesagt: Da gibt es eine Kebab-Bude, die sauber ist und hygienisch und wo die Leute Schweizerdeutsch können. Das gefällt uns.»
Sukzessive bauen die Brüder den Laden um: Sie geben ihm einen neuen Namen, «Ayverdis». Sie bauen das Innere um.
Den Kebab mit Ei und Käse haben die Ayverdi-Brüder immer noch auf der Speisekarte. Über Affoltern hinaus berühmt geworden sind sie jedoch mit einer anderen Innovation: dem Trüffel-Kebab für 25 Franken.
So wie Ayverdis Lokal hat sich auch das Quartier gewandelt – es ist schicker, herausgeputzter, teurer geworden. Affoltern, das einstige Arbeiterquartier, geht den Weg vieler Aussenbezirke: Abrisse, Neubauten, Aufwertung; mehr Bewohner und steigendes Durchschnittseinkommen.
Symbol dieser Entwicklung ist das Tram Affoltern, das ab 2029 hier fahren soll. Sehr zur Freude der Stadtplaner und Immobilienentwickler – und zum Ärger von so manchem Ansässigen.
Die Brüder Ayverdi haben dagegen vom Aufschwung des Quartiers profitiert. Aus der Bude in Affoltern ist ein kleines Imperium geworden. Zwei weitere Filialen haben sie unterdessen in Zürich, in Zug ist eine vierte in Planung. Alle sind bedeutend grösser als das Lokal an der Wehntalerstrasse. Deshalb habe man dieses zeitweise aufgeben wollen, sagt Ayverdi. Aber dann war die Verwurzelung doch zu stark.
«Das ist unsere Geschichte», sagt er. «Die gibt man nicht einfach auf.»
Kilometer 5: Ewig rauscht die Wehntalerstrasse
Wo die Stadt endet, steht das neue Zürich. Neubausiedlungen, eine neben der anderen. Mal grau, mal begrünt, mal kompakt, mal verspielt. In sich geschlossen, aber ohne Bezug zueinander.
Früher standen hier die Öfen des Cece-Grafitwerks, Kernstück eines industriellen Affoltern, das es nicht mehr gibt. Nur eine Halle ist davon noch übrig. Sie soll das Zentrum dieses Quartiers ohne Zentrum sein, mit Aldi, Restaurants und einem Shop für elektronische Zigaretten.
Doch statt Leben gibt es hier bloss Plastikbäumchen neben leeren Stühlen. Den Boden haben Vögel vollgeschissen.
Wo früher Industriebetriebe waren, stehen heute die Wohnblocks: Affoltern, am Rand der Stadt Zürich.
Rundherum liegen verloren die Wohnblocks, wie gestrandete Schiffe liegen sie da. Doch im Hintergrund rauscht nicht das Meer, sondern bloss die Wehntalerstrasse.
Gleich danach kommt die A 1, auf der die Autos um Zürich donnern. Dort liegt die Stadtgrenze.
II.
Die zwei Gesichter der Agglo
Kilometer 7: Bei Säger Aecherli wird alles teurer
Nach der Autobahn: die Illusion vom Ende der Stadt. Da ist der Katzensee mit Ausflugsbeiz, da sind die Wiesen, die Velofahrer. Ein Naturidyll neben dröhnenden Motoren. Doch dann taucht wie eine Fata Morgana Regensdorf auf – die Stadt der Zukunft.
Einst, in den 1940er Jahren, sollte hier draussen ein Grüngürtel entstehen, rings um die Stadt. Um zu verhindern, dass Zürich ein grenzenloser Moloch wird. Stattdessen wachsen die Stadt und ihr ehemaliger Industrievorort immer mehr zusammen.
Paul Aecherli betreibt am Ortseingang eine Sägerei mit Holzhandel. Es ist ein Familienbetrieb, seit über fünfzig Jahren gibt es ihn. Regensdorf habe sich stark verändert, sagt Aecherli. «Die Landpreise steigen massiv, jeden Tag gibt es Stau und viel mehr Wohnungen.»
Wegen des teureren Bodens würden produzierende Betriebe wie der seine immer rarer, sagt der Säger. Sie zögen weiter nach draussen, was noch mehr Verkehr verursache. Er aber wolle bleiben, das Geschäft laufe gut. Etwas beschäftige ihn aber schon: der Fachkräftemangel. Auch hier draussen sei die Lehre immer weniger beliebt, sagt Aecherli. «Dabei muss es doch nicht immer Gymi und Hochschule sein.»
Wo einst Tonbandgeräte hergestellt wurden, entstehen heute 600 neue Wohnungen: In Regensdorf liegt das grösste Entwicklungsgebiet des Kantons Zürich.
Gleich hinter dem Holzhandel beginnt das grösste Entwicklungsgebiet des Kantons Zürich: Regensdorf Nord, ein Stadtquartier mit zwei Hochhäusern aus Holz, 600 Wohnungen und zwei Kindergärten. Einst stellte hier die Firma Revox die besten Tonbandgeräte der Welt her. Nun entsteht Wohnraum für 6500 Menschen.
Strasse und Zug hinken dem Wachstum jedoch kläglich hinterher. «Hölle», «Kollaps», «Chnorz»: Bei Feierabend sei hier kein Durchkommen, heisst es aus dem lokalen Gewerbe. Vor lauter immer gleichen Wohnblöcken wisse man kaum mehr, wo man eigentlich sei.
Regensdorf ist ein Ort, der das Stadtsein noch übt. Die grösste Strafanstalt des Kantons ist hier, gleich daneben ein Einkaufszentrum mit Matratzengeschäft und asiatischem Billig-Imbiss. Dort essen Rentner still ihr Mittagessen, während John Lennon aus den Lautsprechern singt: «You may say, I’m a dreamer, but I’m not the only one.»
Kilometer 9: Moritz liebt den Plattenbau
Oben ohne steht er da. Sonnenbrille, die Bierdose in der Hand, vor einer mit Graffiti übersäten Wand. «Seit ich denken kann, bin ich hier», sagt Moritz, 25. Um ihn herum ist es still und heiss. Ein flacher Betonbau, ein leerer Innenhof, gelbliche Plastikdächer, durch die die Sonne brennt.
Auf dem Boden liegen leere Schnapsflaschen. Neben einem Zigarettenstummel steht eine Dose des Süssgetränks Guaranà. Dahinter abmontierte Gerüststangen und ein kleiner Gabelstapler mit eingeschlagener Windschutzscheibe. «Siffhalde» hat jemand auf die Wand gesprayt.
Und Moritz sagt: «Das hier ist ein schöner Ort.»
Hier, das ist die Siedlung Sonnhalde in Adlikon, gebaut zwischen 1968 und 1979. Eine Siedlung, die einst für das Wohnen der Zukunft stand, dann als Unort in Verruf geriet und heute weitgehend vergessen ist.
Gebaut als günstiger Wohnraum, verschrien als «Siffhalde»: Moritz und die Göhnersiedlung Sonnhalde in Adlikon.
Lange Wohnzeilen, eine neben der anderen, die sich einen Hügel hochziehen, wie eine Treppe ins Nichts. Bezahlbarer Wohnraum, gebaut auf der grünen Wiese. Günstig und doch profitabel, dank der industriellen Massenproduktion von Fertigbauteilen. Das war die Idee des Unternehmers Ernst Göhner, der ab den 1960er Jahren etliche solcher Überbauungen in der Zürcher Agglomeration baute.
Unter dem Schlagwort «Göhnerswil» wurden sie zunächst von links kritisiert, als eine Art gesichtslose Plattenbauten. Und dann von rechts, wegen der vielen Ausländer, die darin wohnten.
Moritz, in der Sonnhalde aufgewachsen, zählt die Vorurteile auf: «wie ein Ghetto», «ein Ort für Sozialfälle», «überall Abfall».
Er aber habe den Ort anders erlebt. «Die Leute sind von überall, du wächst mit jedem auf. Muslimisch, jüdisch, christlich – es ist alles da.» Lange seien die Siedlung und ihre Bewohner vernachlässigt worden, es habe Probleme gegeben: «Diskriminierung, Vandalismus, Armut.»
Aber ihn und seine Kollegen habe der schlechte Ruf nie gestört. «Du fängst an, das geil zu finden. Du identifizierst dich mit der ‹Siffhalde›.»
Während rundherum die Agglo immer schicker wird, die Neubauten Minergie-Standard, grosse Grundrisse und hohe Mietzinse haben, bleibt Göhnerswil günstig. Eine 4-Zimmer-Wohnung kostet 1610 Franken. Es sei eine Gemeinschaft, die jeden aufnehme, sagt Moritz, der an diesem Mittag allein hier steht und auf den Abend wartet. Mit seinem Dosenbier und einer Flasche Jack Daniels, die aus seinem Rucksack ragt.
Über sich selbst sagt er, der weder seinen echten Namen noch sein Gesicht in der Zeitung sehen will, nur das: «Ich bin ehemaliger Student. Ich bin 25. Jetzt mache ich gerade nichts.»
III.
Das Land wird zum Vorort – und rebelliert
Kilometer 18: Die Herrin über das Autoland
Ein Hügel trennt die Agglo vom Land. Der Schwenkelberg führt vom verbauten Regensberg zu den Feldern und Riegelhäusern des Wehntals. Hier herrscht Idylle – ausser zur Stosszeit, wenn eine Blechlawine durch die Dörfer rollt.
Dann staut sich in den malerischen Dorfkernen der Verkehr, kilometerlang. 8500 Autos fahren hier im Schnitt jeden Werktag durch. Es ist ein Vorbote der Zukunft: Die Stadt – sie kommt, auch hierher.
In Oberweningen führt Katrin Rau das bekannteste Geschäft des Tals, die Touring Garage, auf Oldtimer spezialisiert. Als Raus Vater sie 1977 eröffnet, wird er für seine «Occasionen» belächelt – heute ist das Geschäft international bekannt. Hier kann man einen Jaguar E in British Racing Green für 100 000 Franken kaufen oder eine Giulietta von Alfa Romeo für 77 900.
Durch die Strasse und die S-Bahn ist Oberweningen näher an die Stadt gerückt. Nun gibt es in Katrin Raus Heimat sogar ein Kebab-Restaurant.
Rau hat hier draussen ihr ganzes Leben verbracht. Sie hat beobachtet, wie sich ihr Tal verändert. Wie die Neubauten kamen, die S-Bahn und immer mehr Menschen. «Es ist massiv», sagt sie. «Vor dreissig Jahren kostete der Quadratmeter Land 100 Franken. Heute bekommt man nichts mehr unter 1000.»
Auch der viele Verkehr zu Stosszeiten sei ein Problem. Und doch verstehe sie, warum die Leute hierherzögen. «Es ist einfach schön. Ich wohne ja auch gerne hier.»
Eines, sagt sie, sei zudem trotz allen Veränderungen gleich geblieben hier draussen. «Es ist noch immer eine Autowelt.»
Kilometer 19: Ein Bauernpaar im Paradies
Pia und Daniel Schellenberg leben im Paradies. So sagen sie es selbst, und es fällt schwer, es ihnen nicht zu glauben. Hinter ihrem Bauernhaus sitzen sie in einem Gärtchen mit Rosen, einem Sitzplatz und einem Blechschild mit der Aufschrift «Das Leben geniessen».
«Wir haben hier unsere Freiheit, unseren Sitzplatz», sagt er und lacht ihr zu. Sie lacht zurück und sagt: «Hier ist noch heile Welt.»
Noch.
In Schleinikon sind die Baulandreserven begrenzt, dadurch bleibt die Gemeinde ländlich geprägt. Für Daniel und Pia Schellenberg ist das ein Paradies.
Kurz bleibt das Wort in der Luft hängen, dann erzählen die beiden weiter. Von ihrem Hof, den sie zu zweit führten, seit dreissig Jahren, in dritter Generation. Von der Landwirtschaft, die in diesen Jahren weniger profitabel, dafür bürokratischer geworden sei. Und von ihrem Glück, ihrer Freude am Beruf, die trotzdem noch immer da sei.
Dinkel, Weizen, Sonnenblumen, Zuckerrüben, Spargeln: All das pflanzen Schellenbergs an, auf insgesamt 30 Hektaren. 200 Hühner und 23 Mutterkühe halten sie. Anstrengend sei das, sehr sogar. «Aber wir beklagen uns nicht», sagt sie. Die Arbeit, sagt er, sei immer noch «viel schöner, als im Büro zu sitzen».
Was in den Nachbargemeinden viele beklagen – mehr Wohnungen, höhere Landpreise, mehr Verkehr –, das beobachtet auch das Bauernpaar. Doch seien sie grösstenteils davon verschont geblieben. Denn Pia und Daniel Schellenberg wohnen in Schleinikon – einem Ort ohne S-Bahn-Haltestelle, in dem freies Bauland rar ist.
«Es gibt hier immer noch mehr Nutztiere und Pferde als Menschen», sagt er. Auch die Baupolitik sei sehr zurückhaltend, der Wandel deshalb «sehr moderat». Schellenbergs finden das gut.
Es ist die Lektion, die man im Wehntal lernt: Wenn die Stadt wächst und sich das Städtische in die Landschaft frisst, dann ist es Glückssache, wie sehr eine Gemeinde davon getroffen wird. Öffentlicher Verkehr, Baulandreserven und nicht zuletzt die Lokalpolitik bestimmen darüber. Denn Raumplanung ist im Kern immer noch Sache jeder Kommune.
Pia und Daniel Schellenberg, glücklich in ihrem Paradies, machen sich trotzdem ihre Gedanken. Werden sie irgendwann eine ländliche Insel inmitten verstädterter Dörfer sein? Wird das Verständnis ihre Arbeit irgendwann nicht mehr da sein, wenn Pendler und Wohnraum immer wichtiger werden?
Schon heute, sagt er, werde er dauernd angehupt und in halsbrecherischem Tempo überholt, wenn er mit dem Traktor unterwegs sei. «Es soll hier nicht werden wie in Regensdorf», sagt sie. «Wir müssen bewahren, was wir haben.»
Nur ein Dorf weiter ist es dafür schon zu spät.
Kilometer 20: Ein Wirt erkennt sein Dorf nicht mehr
In den 1950er Jahren gab es in Niederweningen ganze vier Wirtshäuser: den Frohsinn, das Kreuz, die Mühle. Und den Löwen, den Paul Moors Vater betrieb, wie schon dessen Vater zuvor.
Im Winter, wenn es eisig kalt war, sei er mit Schlittschuhen über die gefrorene Wehntalerstrasse gefahren, erzählt Paul Moor. 1941 wurde er geboren, hier, am äussersten Rand des Kantons Zürich. «Damals war das ein Dorf», sagt er. «Ein paar Bauern, eine grosse Firma und fertig.»
Der «Löwen» in Niederweningen ist seit fünf Generationen im Besitz der Familie Moor. Davon abgesehen ist in der Gemeinde fast alles anders geworden.
Heute gefriert die Wehntalerstrasse nicht mehr. Platz für Schlittschuhläufer gäbe es ohnehin keinen. Und der «Löwen» ist das letzte Wirtshaus, das dem Dorf geblieben ist.
Während er das erzählt, sitzt Paul Moor, heute 83, in der Kegelbahn der Wirtschaft. Sie ist nicht mehr in Betrieb. Neben ihm sitzt sein Sohn Konrad Moor. Er führt den Betrieb heute, in fünfter Generation.
Am Eingang von Niederweningen steht er, die Terrasse geht direkt auf die Strasse. Anderswo als mit Blick auf die Vorbeifahrenden wolle hier niemand sitzen, Verkehr hin oder her. «Sie wollen schauen: Wer fährt vorbei? Wer geht einkaufen? Wer parkiert schräg?», sagt Konrad Moor. Er nennt seinen «Löwen» «eine Beiz, kein Restaurant».
34 Minuten hat man von hier ins Zürcher Stadtzentrum, S-Bahn sei Dank. Der Zug und die Strasse haben dieses Dorf zum Vorort von Zürich gemacht. Je knapper dort der Wohnraum wird, desto mehr Leute ziehen hierher. Die Bevölkerung wächst. Seit den Tagen, da hier Schlittschuh gefahren wurde, hat sich die Zahl der Einwohner vervierfacht.
Mit aller Kraft – und nicht weniger als 78 Vereinen – stemmt sich die Bevölkerung dagegen, eine Schlafgemeinde zu werden. Aber wenn Konrad Moor über die Wandlung seines Heimatdorfs spricht, ist es dennoch, als spräche er über eine Naturgewalt.
Die Bodenpreise? «Abartig.» Die Mieten? «Kann man sich als Büezer nicht mehr leisten.» Die Neubauten? «Die sind ja schön, und die Leute wollen sie so. Aber können sie sie auch bezahlen?»
Vis-à-vis dem «Löwen» steht heute eine langgezogene Wohnsiedlung. Grau, mit grossen Terrassen. Ein mannshohes Gitter, gefüllt mit Steinbrocken, steht als Sichtschutz davor.
Konrad Moor zeigt eine alte Fotografie: der Platz vor der Wirtschaft, mit Brunnen und Telefonkabine, auf der anderen Strassenseite ein Bauernhof. So sah das früher aus.
Dann zeigt er nach hinten, zum Dorfrand. «Dort», sagt er, «kommen bald nochmals neunzig Wohnungen hin.»