Ein abgesetzter Gouverneur verwandelt seine Niederlage in einen Sieg. Plötzlich sorgt sich auch Japan über die Disruption der politischen Welt. Doch die Lage unterscheidet sich zu der im Rest des Westens.
Lange galt Japan als eine Insel demokratischer Stabilität in einer immer turbulenteren Welt. Doch unter der ruhigen Oberfläche gewinnen die Populisten an Kraft. Eine neue Generation von ihnen nutzt geschickt die sozialen Netzwerke, um das politische System herauszufordern – mit wachsendem Erfolg.
Jüngstes Beispiel ist der Fall des Gouverneurs Motohiko Saito in der Präfektur Hyogo. Nachdem ihn das Regionalparlament wegen Machtmissbrauchs und anderer Vorwürfe einstimmig abgesetzt hatte, gewann er die Neuwahlen im November dennoch mit 45,2 Prozent der Stimmen. Sein Erfolgsrezept: Ein Heer von 400 Social-Media-Aktivisten wandelte sein Image von demjenigen eines Täters zu demjenigen eines Opfers. Bei den Wählern unter 30 erhielt er rund 70 Prozent der Stimmen.
Das Ergebnis hat Japans politisches Establishment schockiert. Der ehemalige Spitzendiplomat Kunihiko Miyake, Präsident der Denkfabrik Canon Institute for Global Studies, sagt: «Die Sorge ist, dass populistische und demagogische Kampagnen nun auch in Japan Erfolg haben.»
Er befürchtet, dass sich eine Wut, wie sie viele Menschen in den USA und Europa empfinden, nun auch unter Japanern ausbreitet. Die Populisten jubeln hingegen über Saitos politische Wiederauferstehung.
Digitale Schmutzkampagnen und Polarisierung
«Es ist dem Sieg von Donald Trump sehr ähnlich», sagt Takashi Tachibana, Chef der populistischen NHK-Partei, die sich gegen den öffentlichrechtlichen Fernsehsender Japans richtet. Obwohl chancenlos, war auch Tachibana bei der Gouverneurswahl angetreten. Sein Ziel: Er wollte Saito mit einer gegen die Medien und dessen Gegner gerichteten digitalen Schmutzkampagne unterstützen.
Der Politologe Yusuke Ishikawa vom Institute of Geoeconomics, einer Denkfabrik in Tokio, sieht in der Kampagne eine neue Qualität in Japan. «Die japanische Politik ist nicht so stabil, wie viele behaupten», sagt er. Ein Grund sei der Siegeszug der sozialen Netzwerke.
In einer Untersuchung über Desinformationskampagnen haben er und seine Kolleginnen Marina Fujita Dickson sowie Sara Kaizuka herausgefunden, dass das Vertrauen in Medien und Institutionen in Japan zwar noch höher sei als in anderen westlichen Ländern. Allerdings liege dies vorwiegend an den älteren Generationen, die einen grossen Teil von Japans Bevölkerung ausmachten.
Die Alten informieren sich überwiegend über traditionelle Medien. Die jungen Menschen nutzen hauptsächlich Tiktok, Youtube und andere soziale Netzwerke. Damit zerfällt in Japan das, was Ishikawa das «gemeinsame Narrativ» nennt, also die gemeinsamen Geschichten, welche die japanische Gesellschaft zusammenhalten.
Diese Transformation schaffe eine «gespaltene Sphäre» des politischen Diskurses: auf der einen Seite die strukturierten, neutralen Erzählungen der traditionellen Medien, die bis heute den politischen Diskurs in Japan bestimmen. Auf der anderen Seite sind es die ungezügelten, emotionalen Diskussionen auf den sozialen Plattformen – dem Tummelfeld der Populisten.
Die neue Macht eines Wahlkampfberaters
Shinnosuke Fujikawa ist ein einflussreicher Wahlkampfberater. Er hat dieses Jahr bereits bei den Gouverneurswahlen in Tokio im Juli und den nationalen Parlamentswahlen im Oktober die Macht digitaler Kampagnen demonstriert. Bei den Gouverneurswahlen im Juli wurde sein Klient Shinji Ishimaru, Bürgermeister einer abgelegenen Kleinstadt bei Tokio, aus dem Nichts zu einem Phänomen. Der Wahlkampfberater Fujikawa wird daher auch «Wahlgott» genannt.
«Die Kampagne war eigentlich ein Miniunternehmen ohne Ressourcen», sagt Fujikawa. Anfangs gab es nicht einmal ein Büro. Dennoch mobilisierte die Kampagne schnell Freiwillige im ganzen Land und sammelte 300 Millionen Yen (rund 1,77 Millionen Franken) an Spenden.
«Das war beispiellos», schreibt Fujikawa in einem Blog. Ebenso wie das Ergebnis: Alle hatten ein Duell zwischen Tokios Bürgermeisterin Yuriko Koike und ihrer Herausforderin Renho von der linkszentristischen Konstitutionell-Demokratischen Partei erwartet. Doch plötzlich strömten Tausende zu Ishimarus Wahlkampfveranstaltungen, bei der Wahl erreichte er schliesslich den zweiten Platz hinter der Amtsinhaberin Koike.
Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Oktober kam der «Wahlgott» dann der zentristischen Volksdemokratischen Partei zu Hilfe. Sie vervierfachte die Zahl ihrer Sitze und ist nun viertstärkste Partei, weil sie auch bei jungen Wählern punkten konnte.
Japans und Europas Populismus unterscheiden sich
Ganz neu sind die Erfolge japanischer Populisten auf regionaler Ebene allerdings nicht. Im Gegensatz zum Rechtspopulismus europäischer Prägung sind die populistischen Bewegungen in Japan aber neoliberal geprägt.
Von der Ishin no Kai, der Erneuerungspartei von Osaka, bis hin zu verschiedenen regionalen Kandidaten sprechen erfolgreiche populistische Kampagnen in Japan eher die Beschwerden der städtischen Mittelschichten an, welche die ländlichen Regionen mitfinanzieren, als die Missstände der Arbeiterklasse. Dieses Alleinstellungsmerkmal habe ihre landesweite Anziehungskraft begrenzt, vor allem in ländlichen Gebieten, wo die Wähler vom derzeitigen System profitierten, erklärt der Politologe Ishikawa.
Ein weiterer Grund für die bisherige politische Stabilität Japans: Rechtsextreme Gruppierungen hatten neben der regierenden Liberaldemokratischen Partei unter dem Ministerpräsidenten Shinzo Abe keinen Platz. Abe war für viele Japanerinnen und Japaner eine Identifikationsfigur. Doch 2022 wurde er ermordet. «Bisher ist es niemandem gelungen, diese Lücke zu füllen», sagt Ishikawa.
Zudem sind die Hürden bei nationalen Wahlen deutlich höher, weil die Parteien landesweit organisiert sein müssen. Viele Experten halten den Siegeszug populistischer Parteien dennoch für möglich.
Ein Indiz für japanische Politikexperten ist die niedrige Wahlbeteiligung. Bei den Unterhauswahlen lag sie bei rund 54 Prozent. Ein anderes Indiz sind die jüngsten Parlamentswahlen.
Während die Regierungskoalition aus den Liberaldemokraten und der kleinen Gerechtigkeitspartei ihre absolute Mehrheit verlor und das Land nun als Minderheitsregierung führen muss, konnten die kleineren populistischen Parteien an den Rändern des politischen Spektrums zulegen.
Auf der linken Seite des politischen Spektrums überholte die Reiwa Shinsengumi die Kommunistische Partei. Auf der rechten Seite gewannen kleinere Parteien Sitze hinzu, darunter die Sanseito, die durch die Verbreitung von Verschwörungstheorien auffällt.
Für den amerikanischen Japan-Experten Tobias Harris ist «die Fähigkeit einiger Politiker, unzufriedene Wähler über die sozialen Netzwerke zu mobilisieren, ein starkes Indiz für die Existenz einer unzufriedenen Minderheit, die sich von der politischen Macht ausgeschlossen fühlt».
Noch handle es sich um ein weitgehend unideologisches Phänomen, eine Reaktion auf die ungerechte Verteilung der politischen Macht, sagt Harris. Er glaubt zwar, dass es mehr braucht als die geschickte Nutzung sozialer Netzwerke, damit der Rechtspopulismus in Japan an Bedeutung gewinnt. Aber er ist überzeugt: «Japans politisches System ist reif für einen Umbruch.»