Erst forderten zahlreiche Länder, Israel vom Wettbewerb auszuschliessen. Dann lehnte der Veranstalter die eingesandten israelischen Beiträge ab, weil sie zu politisch seien. Doch darüber lässt sich streiten.
Mehr als hundert Millionen Menschen schauen sich den Eurovision Song Contest (ESC) im Fernsehen an. Für die teilnehmenden Länder ist das eine Chance. Der Wettbewerb bietet Gelegenheit, Sympathien für sich zu wecken und die Aussenwahrnehmung zurechtzurücken. Doch dieser Wettstreit um Gunst und Aufmerksamkeit folgt einem Regelwerk. Darin heisst es, politische Texte, Ansprachen und Gesten seien untersagt. Die Geschichte des Wettbewerbs und Diskussionen über den israelischen Beitrag in diesem Jahr zeigen: Das Adjektiv «politisch» ist im Zweifelsfall ein dehnbares Wort.
Als ob Israel Russland wäre
In den vergangenen Wochen forderten Irland, Spanien, Slowenien, Island, Norwegen, Dänemark, Schweden und Finnland, dass Israel von der diesjährigen Ausgabe in Malmö ausgeschlossen wird. In Schweden unterschrieben zudem mehr als tausend Kunstschaffende einen entsprechenden Aufruf. Die Begründung: Vor zwei Jahren, nach dem Überfall auf die Ukraine, habe man mit Russland dasselbe getan.
Doch die Europäische Rundfunkunion (EBU), die den Wettbewerb veranstaltet, hielt dagegen. Beim ESC träten keine Regierungen, sondern öffentlichrechtliche Rundfunksender gegeneinander an, schrieb Noel Curran, der Generaldirektor der EBU. Israel dürfe teilnehmen.
Dass dem Einmarsch Israels in den Gazastreifen das grösste Massaker an Jüdinnen und Juden seit dem Zweiten Weltkrieg vorausgegangen war, blieb in der Diskussion unbeachtet. Mehr noch. Die EBU lehnte zwei Lieder ab, die Israel, wie beim ESC üblich, zur Prüfung eingereicht hatte. Der Vorwurf lautete, sie seien zu politisch. «October Rain», das Lied, das die israelische Künstlerin Eden Golan in Malmö singen sollte, beziehe sich auf das Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023. Die EBU sah darin einen Widerspruch zum Regelwerk. Konkreter wurde sie aber nicht.
Die israelische Rundfunk- und Fernsehbehörde wehrte sich zunächst gegen den Versuch, das Lied zu zensurieren, und teilte darauf mit, dass man sich nötigenfalls lieber vom ESC zurückziehen werde. Doch dann suchte Israel einen Kompromiss und reichte einen weiteren Beitrag ein.
Auch der Song «Dancing Forever» wurde laut israelischen Medien von der EBU zurückgewiesen. Und zwar wegen seines Bezugs zum Nova-Musikfestival. Allein dort töteten Hamas-Terroristen am 7. Oktober 364 Menschen und machten das Festivalgelände zu einem Massengrab. Auf diese Zurückweisungen schalteten sich hohe israelische Politiker ein.
Ist Erinnern politisch?
Yitzhak Herzog, der israelische Staatspräsident, sagte gegenüber der «Times of Israel», es gebe «Hater», die versuchten, Israel von jeder Bühne zu vertreiben. Israel Katz, der israelische Aussenminister, sagte, Israel habe das Recht, über das, was es erlebt habe, zu singen und es zu nennen, wie es wolle. Miki Zohar, der israelische Kulturminister, äusserte sich auf der Plattform X ebenfalls. Er schrieb, der Entscheid der EBU sei «skandalös». Der Text von «October Rain» sei ein bewegendes Lied, das die Gefühle der Menschen zum Ausdruck bringe.
Warum aber entschied die EBU anders? Wer sich die jüngere Vergangenheit des ESC anschaut, könnte zum Schluss kommen: Ob eine Erinnerung politisch ist, hängt davon ab, wer erinnern will.
2016 gewann die ukrainische Sängerin Jamala mit den Lied «1944» den ESC. Es bezieht sich auf ein Verbrechen gegen die Volksgruppe der Krimtataren. Nach der Rückeroberung der Krim durch die Sowjetunion liess Josef Stalin gegen Ende des Zweiten Weltkriegs 189 000 Krimtataren in überfüllten Zügen nach Zentralasien deportieren. Die Sowjetunion beschuldigte sie der kollektiven Kollaboration mit den Nationalsozialisten. Schätzungen gehen von mehreren zehntausend Toten aus. Sie starben durch Krankheiten, an Hunger, Durst. Auch damals wurde Kritik geäussert, das Lied sei zu politisch. Doch die EBU winkte ab und teilte mit, weder Titel noch Inhalt des Liedes hätten einen politischen Hintergrund.
Eine deutliche politische Botschaft platzierte 2019 die isländische Band Hatari. Während der Punktvergabe in Tel Aviv hielten die Bandmitglieder Schals mit der palästinensischen Fahne in die Kamera. Später verhängte die EBU eine Busse von 5000 Euro gegen das isländische Fernsehen. Interessant ist dabei, dass Hatari bereits vor dem ESC angekündigt hatte, die Veranstaltung für eine Stellungnahme zu nutzen.
In anderen Fällen schritt die EBU schon früher ein. Beim ESC 2009 in Moskau liess die EBU den georgischen Titel «We Don’t Wanna Put In» nicht zu. Georgien trat schliesslich nicht an. So weit soll es für Israel nicht kommen.
Israel beugt sich dem Druck
Am Sonntag hat der israelische Sender Kan, der für den israelischen Beitrag am ESC verantwortlich ist, mitgeteilt, dass die Texte von «October Rain» und «Dance Forever» überarbeitet würden. Verantwortlich für diese Wendung soll der israelische Staatspräsident Yitzhak Herzog sein.
Laut Kan hatte er «notwendige Anpassungen» gefordert, um die Teilnahme Israels sicherzustellen. Um welche Textstellen es geht, ist in den Medien Inhalt von Spekulationen. Denn die EBU hat keine konkreten Textstellen aufgeführt. Und bis vor kurzem war der Text von «October Rain» gar nicht öffentlich. Das hat sich jetzt geändert.
Nun ist bekannt, dass an einer Stelle von «flowers», also Blumen, die Rede ist. Laut verschiedenen Medienberichten handelt es sich in Israel dabei um eine Chiffre für gefallene israelische Soldaten. Explizite Verweise auf den Gazakrieg oder das Massaker der Hamas gibt es in «October Rain» jedoch nicht.
Bis am 10. März gibt der israelische Sender Kan bekannt, ob er die überarbeitete Version von «October Rain» oder jene von «Dance Forever» ins Rennen für den ESC schickt. Möglicherweise wird dann deutlicher, an welchen Textstellen sich die EBU gestört hat. Nur eines ist jetzt bereits klar: Politische Diskussionen hat der ESC auch dieses Jahr wieder ausgelöst.