Gerold Späths Roman «Unschlecht» wurde sogleich zum literarischen Ereignis und zum grossen Ärgernis in Rapperswil. Im Gespräch erzählt der Autor aus seinem Leben und Arbeiten.
Draussen vor dem Bahnhof in Rapperswil wartet Gerold Späth. Der 85-Jährige sieht gebrechlicher aus, als er in Erinnerung geblieben ist, er wirkt etwas hager und geht am Stock. Er habe ihn selber gemacht, wird er später sagen. Der Griff sei das Horn eines Hirschs, den er aber nicht etwa selber geschossen habe. Schon auf dem Weg ins Café, wo wir unser Gespräch führen werden, will er wissen, wie es der NZZ gehe. Er lese sie nur noch einmal die Woche, mehr brauche er nicht. Daneben lese er die Lokalzeitung. Er wolle schliesslich wissen, was hier vor sich gehe. Und die Art und Weise, wie er es sagt, deutet bereits an, dass der kritische Geist weder Schalk noch Schärfe verloren hat. Als wir um die zweite oder dritte Hausecke gehen, weist er mit dem Stock hinauf zum Schloss. Es sei das älteste Habsburger Schloss, sagt er, eigentlich eine Burg. Jüngst sei sie saniert worden. Die Architekten hätten innen sehr viel Beton verbaut. Dann weist er wieder mit dem Stock auf die obersten beleuchteten Fenster. «Sehen Sie das? Fällt Ihnen etwas auf? Neonröhren!» So seien die Rapperswiler. Neonröhren in der Burg aus dem Mittelalter. Null Kultur.
Herr Späth, Sie reiben sich noch immer an Ihrer Geburtsstadt und deren Bewohnern. Hat sich nichts verändert, seit Sie 1970 mit den derben Spässen und dem Hohn auf die Spiessbürger in Ihrem Romandebüt «Unschlecht» die halbe Stadt gegen sich aufgebracht haben?
Natürlich hat sich etwas verändert. Man kennt mich nicht mehr. Gelegentlich werde ich in der Stadt gegrüsst, weil sich jemand vage zu erinnern glaubt, wer ich sein könnte. Aber soll ich mich etwa nicht mehr aufregen, wenn sich die Stadt lächerlich macht? Wenn sie ihre abgewählten Magistraten noch lange über deren Amtszeit hinaus entlöhnt – und dafür eine Versicherung abgeschlossen hat?
Vor Jahrzehnten sagten Sie einmal, Sie möchten an einen Ort ziehen, wo es wärmer ist. Und zwar in klimatischer und in menschlicher Hinsicht. Haben Sie den Ort gefunden?
In Italien. Dort hatten meine Frau und ich etwas gefunden, das damals spottbillig war für unsere Verhältnisse. Dort habe ich die Wärme gefunden. Manchmal war es sogar zu warm. Und richtig Italienisch lernte ich auch nicht.
Und wo haben Sie die menschliche Wärme gefunden?
Ich war vor Jahren auf einer ausgedehnten Lesereise in England und Irland. Dort entdeckte ich, dass ganze irische Landstriche sehr schwach besiedelt sind. Von einem Engländer konnte ich dann ein kleines Anwesen kaufen, das er sich da gebaut hatte.
Gingen Sie je ganz weg aus der Schweiz?
Etwa drei, vier Jahre waren wir Iren. Damals wurde man als Künstler vom irischen Staat sehr grosszügig behandelt. Wir mussten keine Steuern bezahlen, bloss belegen, dass ich künstlerisch tätig war. Später haben wir das Jahr zwischen den drei Wohnsitzen aufgeteilt: Im Winter waren wir in Italien, im Sommer im kühlen irischen Westen und in der Schweiz die restlichen vier Monate im Jahr.
Das klingt nach einem sehr guten und angenehmen Leben. Wie haben Sie diese Häuser überhaupt kaufen können?
Sobald ich von den Bücherverkäufen Geld zusammengespart hatte, kauften wir uns etwas. Und mein Vater unterstützte uns dabei. Es waren natürlich keine Villen. Zumal das seit Jahren leerstehende Pächterhaus in Italien war in schlechtem Zustand, wir mussten es über viele Jahre hinweg herrichten, damit es richtig bewohnbar war.
Worin bestand das Menschliche, das Sie in Irland gefunden haben?
Ich habe immer sehr gute Nachbarn gefunden, sowohl in Irland wie in Italien. In Irland war es noch ausgeprägter. Man ist dort der Fremde gewesen, der vom Kontinent. Und man begegnete sofort vielen Menschen, die interessiert waren an einem. Aber die Leute waren zehn Kilometer entfernt. Man muss sich die Gegend ziemlich menschenleer vorstellen. Und ich habe sehr gerne geangelt. Wenn ich fische, muss ich mich nicht aufs Fischen konzentrieren, denn alle Bewegungsabläufe sind automatisiert. Stattdessen kann man auf dem See sehr gut denken und Ideen entwickeln. Man muss die Gedanken auf den See mitnehmen und dort ausbrüten. Man kann beim Angeln zwei, drei Stunden draussen bleiben und den Gedanken nachhängen. Das tut gut, wenn es ergiebig ist und man dabei etwas Neues findet.
Aber Sie gehen dennoch der Fische wegen auf den See?
Natürlich ist der Fisch zum Fangen da. Früher konnte ich eine halbe Stunde auf dem See sein, dann hatte ich wieder Fische für zwei oder drei Tage. Egli oder Forellen. Die anderen habe ich zurück ins Wasser gegeben. Hechte zum Beispiel. Die waren wunderbar zum Anschauen. Das Fleisch hatte einen leicht bläulichen Schimmer. Aber der Fisch roch nach Sumpf. Das hatte mit dem Wasser zu tun, das von den Torfhügeln herunterkam. Das Wasser im See ist ganz schwarz vom Torf, und darum riechen auch die Fische nach Moos. Egli und Forellen sind nicht so extrem.
Max Frisch hat 1986 in einer Art Abschiedsrede an die Freunde gesagt, am Ende bleibe einem nichts, als mit Voltaire den Garten zu bestellen. Wie halten Sie es damit?
Ich habe mindestens vier Jahre gedacht, dass ich alle Bücher, die ich schreiben wollte, geschrieben habe. Und jetzt, plötzlich, vor etwa einem halben Jahr, hatte ich auf einmal wieder eine Idee. Jetzt möchte ich noch einmal ein Buch schreiben. Ich suche noch immer und warte. Ich lasse mir Zeit. Es muss nicht sein, aber es wäre schön. Wie alt ist Adolf Muschg?
Er wird dieses Jahr 91.
Oje, dann habe ich aber noch lange Zeit. Er hat doch gerade ein Buch geschrieben, etwas über sich. Ich habe irgendwo darüber gelesen.
Peter Bichsel wird dieses Jahr 90, und er sagt von sich selber, er sei ein gewesener Schriftsteller. Sagen Sie das von sich auch? War es ein Entschluss, als Sie dachten, Sie hätten nun alle Bücher geschrieben?
Nein, überhaupt nicht. Zugleich habe ich gewusst, dass ein Buch zu einem kommen muss. Die Sucherei beginnt erst, wenn das Buch zu einem gekommen ist. Doch jetzt, da ich glaubte, ich hätte alle meine Bücher geschrieben, dachte ich auch: Einfach nur noch herumsitzen geht nicht. Und prompt regt sich wieder etwas. Ich kann es offenbar nicht lassen.
Um was geht es in dem neuen Buch?
Darüber will ich nicht reden.
Voltaires «Il faut cultiver son jardin» heisst ja auch, sich auf den Tod vorzubereiten.
Wie soll man sich auf den Tod vorbereiten? Ich kann es nicht.
Denken Sie an den Tod?
Selbst wenn es mir elend gehen würde, käme es mir nicht in den Sinn, an den Tod zu denken. Es gibt noch so viele Bücher, die ich lesen möchte. Ich habe viel zu viele Bücher gekauft in meinem Leben. Manchmal lese ich auch nur die Anfänge der Bücher, mir reicht es dann, wenn ich siebzig grandiose Seiten gelesen habe, etwa bei William Faulkner, «As I Lay Dying».
Sie lesen bei Faulkner über das Sterben und fühlen sich davon belebt?
Man kann bei den grossen Autoren immer wieder lernen. Wiederum muss man als Schriftsteller auch nicht immer lernen. Bevor ich meinen «Unschlecht» schrieb, wusste ich seit etwa acht oder zehn Jahren, was ich schreiben musste. Das war einfach da. Da musste mir niemand beistehen. Und auch das Schreiben kam von allein.
Sie hatten ja auch eine Weile gewartet, bis Sie Schriftsteller wurden. Sie machten erst einmal eine Lehre als Kaufmann. Wieso ausgerechnet Kaufmann?
Mich haben die Sprachen interessiert. Mit einer kaufmännischen Lehre konnte man Sprachen lernen. Das Kaufmännische hingegen war mir egal. Es waren die Sprachen, die mich lockten.
Ihre Vorfahren waren seit Generationen Orgelbauer. Dieses Handwerk reizte Sie nicht?
Die Späths kamen aus Deutschland, es begann um 1840, in der Nähe von Sigmaringen. Die berühmten Schweizer Orgelbauer kamen alle aus Deutschland oder Frankreich. Mein Bruder und ich waren immer in der Werkstatt. Ich bin mit dem Orgelbau aufgewachsen, und im Herzen bin ich Handwerker geblieben.
Sie machten zwar keine Lehre, aber später kamen Sie dann doch zum Orgelbau.
In den Ferien musste ich immer mit dem Vater in der Werkstatt arbeiten. So wusste ich einerseits sehr viel, lernte anderseits manches, ohne ordentliche Lehre. Ich habe Pfeifen aufgeschnitten. Das Labium. Dazu braucht man einen Reduktionszirkel und ein sehr scharfes Messer. Oder ich baute Wellenbretter für die Mechanik im Inneren der Orgel. Allmählich lernte ich alle die Zusammenhänge der verschiedenen Arbeiten kennen.
Aber Sie wollten dann doch nicht ernsthaft in den Orgelbau einsteigen?
Dass ich im Orgelbau aufgewachsen bin, hatte natürlich einen enormen Einfluss auf mich. Die Komplexität dieses Berufs bereitete mich auch auf eine Komplexität vor, die man in Büchern antrifft. Das war mir lange nicht bewusst. Orgelbau ist ein phantastischer Beruf, das war ein enormes Bildungserlebnis. Aber ich hatte immer anderes im Sinn, ich wollte Bücher schreiben. Und ich hatte ja eines im Kopf.
Wann merkten Sie, dass da etwas ist, was Sie zum Erzählen hinführt?
Ich habe schon in der Schule immer sehr gerne geschrieben. Es war meine Art, etwas zu sagen.
Sie begannen mit zwanzig zu publizieren, zunächst noch unter einem Pseudonym.
Nein, das kann nicht sein. Daran kann ich mich nicht erinnern.
Unter dem Namen Stadtbachel haben Sie Texte veröffentlicht.
Ah ja, das stimmt, das war für eine Zeitung der Sozialdemokraten, gute Kollegen von mir. Ich wollte nicht unter meinem eigenen Namen schreiben, es waren Glossen, die Lokales aufspiessten. Das Pseudonym gab mir eine gewisse Narrenfreiheit.
Und dann kam der Erstling, «Unschlecht», dieses Buch, das in Ihrem Kopf allmählich entstand. Wie kam der Unschlecht da hinein?
Ganz prinzipiell sind es bei mir Erinnerungen und Beobachtungen, die sich anhäufen. Daraus kristallisiert sich dann eine Geschichte, die ich aufzuzeichnen beginne, sobald ich weiss, wie sie enden soll. Dann schreibe ich. Allerdings werde ich beim Schreiben immer wieder davon überrascht, dass die Figuren ein Eigenleben entwickeln.
«Er brach auch sonst aus der Reihe», heisst es über die Figur Unschlecht. Gilt das auch für Sie? Tanzten Sie auch aus der Reihe?
Ich bin jedenfalls weit und breit der einzige Schriftsteller in der Familie. Ich war also tatsächlich aus der Reihe gekommen.
Zugleich zeugt das Buch von Ihrem rebellischen Geist.
Das war überhaupt nicht gut für das Geschäft meines Vaters. Es wären damals etwa fünf Orgeln zu bauen gewesen in Rapperswil und Umgebung. Keine einzige konnten wir bauen. Es ist meinem Vater sogar gesagt worden: «Wenn man einen Sohn hat, der solche Bücher schreibt, brauchen Sie sich nicht zu wundern!»
Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Roman «Unschlecht», seiner masslosen und burlesken und derben Art, und dem Orgelspiel, das auf seine Weise ja auch von der Opulenz lebt?
Es gibt Leute, die Orgel nicht gerne haben, weil sie ihnen zu wuchtig, zu gewaltig, zu lärmig ist. Bach hat manchmal sehr kühne Dinge komponiert, in der berühmten Toccata und Fuge in d-Moll, von denen man noch nicht einmal sicher zu sagen weiss, ob sie von ihm seien. Da macht er völlig verrückte Dissonanzen. Eine Orgel ist tatsächlich ein Wunderwerk. Aber ob das etwas mit meinem Schreiben zu tun hat, mit seiner Opulenz? Es wäre mir nie in den Sinn gekommen.
Es war ein sehr eigenwilliges Buch. Es war sexuell anzüglich, es stellte das Spiessbürgertum bloss, und es war ein Schelmenroman mit erkennbarem lokalem Bezug. Hatten Sie Vorbilder?
Mir gefiel besonders gut Grimmelshausens «Simplicissimus». Ich habe ihn nie ganz gelesen. Ein Teil reichte. Dann las ich Boccaccio, das war eine Offenbarung. Und selbst Céline, «Au bout de la nuit». Wichtig waren für mich auch Gottfried Keller und Johann Peter Hebel.
War nicht auch Grass eine Inspirationsquelle?
Klar, natürlich hatte ich die «Blechtrommel» gelesen, aber auch dieses Buch habe ich nie zu Ende gelesen. Mir reichte es, den Ton zu hören und die Figuren zu verstehen. Vom Schluss habe ich zwar auch noch einiges gelesen, aber das fand ich nicht mehr besonders interessant. Ich bin auch zu Grass gegangen. Ich hatte ihm einen Brief geschrieben und gefragt, ob ich ihn einmal in Berlin besuchen könnte.
Hatten Sie da «Unschlecht» schon begonnen?
Ich glaube, dass ich gerade erst angefangen hatte. Ein Kapitel oder so. Jedenfalls ging ich zu ihm. Ich zeigte ihm einen Ausschnitt. Er war sehr zuvorkommend. Und er hat dann also ein wenig gelesen und darauf irgendwie anerkennend gegrummelt. «Ja, das taugt doch etwas», sagte er. Er hat mich sehr bestärkt. Seither hatten wir ein sehr gutes Verhältnis miteinander und sahen uns regelmässig. Bis herauskam, dass er bei der SS gewesen ist als Jugendlicher. Mit mir hat er nie darüber gesprochen. Nachdem Grass den Nobelpreis erhalten hatte, brach der Kontakt vollends ab.
Das Buch existierte zunächst in Ihrem Kopf, haben Sie gesagt, Sie mussten es nur noch daraus abschreiben. Wo und wann geschah das?
Ich war damals mit Daniel Keel von Diogenes in Kontakt. Er brachte mich mit der Chefredaktorin der Frauenzeitschrift «Elle» zusammen. Ich war damals noch völlig unbekannt, nicht mehr als ein Gerücht. Dann erschien in der «Elle» ein Porträt über mich. Darin erzählte ich, dass ich einen ruhigen Ort zum Schreiben brauchte. Darauf meldete sich ein Leser, der mir ein stillgelegtes Restaurant in Ermatingen anbot. Mit meiner Frau und dem ersten Kind, es war noch nicht ein Jahr alt, lebten wir also vom Dezember 1967 bis Mai 1968 in dem Restaurant. Dort habe ich «Unschlecht» von Hand geschrieben, dann auf einer Hermes abgetippt. Im Oktober 1968 war der Text fertig.
Mai 1968, sagen Sie? Sie sind in dem Restaurant mit Frau und Kind, schreiben Ihren anarchischen Roman, und draussen erhebt sich eine Revolte. Hatten Sie das zur Kenntnis genommen?
Ach, darum konnte ich mich nicht kümmern. Ich hatte mit meinem Buch genug zu tun, es lief gut, und ich wollte mich nicht ablenken lassen. Ausserdem lebten wir da sehr einfach in Ermatingen.
Und wie kam das Buch in einen Verlag?
Daniel Keel zierte sich, was etwas seltsam war und überraschend. Ich schaute dann weiter herum in der Schweiz. Dann rief ich bei Peter Schifferli an, ich wusste, dass dort Dürrenmatt und weitere Autoren erschienen. Am Telefon meldete sich eine Frau, ich erklärte mein Anliegen, worauf sie wissen wollte, wie viele Seiten das Manuskript habe. «600», sagte ich. Darauf sie: «Was, das ist Ihr erstes Buch? Dann bringen Sie es mal.» Zwei Wochen später klingelt es an der Türe, da steht Schifferli vor der Türe und fragt: «Sind Sie der Späth? Das Buch machen wir.»
Die Stummheit der Figur spielt in «Unschlecht» und auch im nächsten Buch, «Stimmgänge», eine grosse Rolle. Stellten die Bücher eine Befreiung dar, einen Ausbruch aus der Sprachlosigkeit?
Wenn man ein solches Buch im Kopf hat, muss man es loswerden. Es muss weg und geschrieben werden. In diesem Sinne war es eine Befreiung. Danach interessierte mich das Buch nicht mehr. Ich wartete dann schon auf das nächste.
Was bedeutet es für Sie, Schriftsteller zu sein?
Das machen, was man muss. Das Buch will gemacht werden. Da kann man sich nicht entziehen. Meine Frau arbeitete, damit wir die Familie durchbringen konnten. Sicher vier, fünf Jahre lang. Sie hat das Geld hereingebracht. Ich wiederum war immer überrascht, wie wenig Bücher man in der Schweiz verkauft, selbst wenn man angeblich Erfolg hat.
Welche Rolle spielt das Autobiografische in Ihren Büchern?
Meine Erinnerungen sind das Material, mit dem ich arbeite. Es ist ein Schatz, der verlorengeht und plötzlich wieder auftaucht und gehoben werden will. Viele Figuren entstehen erst beim Schreiben. Das im Kopf entstandene Buch setzt sich selber fort. Ich habe die grosse Linie, der Rest ergibt sich beim Schreiben.
In Ihren Büchern entfaltet die Einbildungskraft einen riesigen Raum phantastischer Welten, halb in der Realität verankert, halb aus der Erfindung geschöpft. Im erzählerischen Gestus aber sind Sie masslos. Entspricht das Ihrem Naturell, sind Sie auch sonst ein massloser Mensch?
Ich weiss es nicht, ich kann das nicht beurteilen. Das ist mir auch nicht bewusst beim Schreiben. Ich denke nicht an solche Dinge. Was ich schreibe, ist einfach da, und ich muss es aufschreiben. Früher sagte ich, dass ich die Figuren an der langen Leine führen würde. In Wahrheit ist es umgekehrt. Es sind die Figuren, die mich an der langen Leine führen. Und ich muss das Gopfriedstutz aufs Papier bringen.
Kennen Sie die jüngeren Autoren, Peter Stamm oder Lukas Bärfuss?
Ich habe keinen Kontakt zu ihnen. Aber ich kenne Peter Weber recht gut, ein Schulfreund meines Sohnes. Die jüngere Generation interessiert mich nicht wirklich. Wenn ich in einer Buchhandlung in eines der Bücher schaue, staune ich. Eine andere Welt.
Vom Kaufmann zum Schriftsteller
Gerold Späth wurde 1939 in Rapperswil in eine Orgelbau-Dynastie geboren. Er entschied sich früh, Schriftsteller zu werden, und erregte gleich mit seinem Erstling von 1970, dem Roman «Unschlecht», grosse Aufmerksamkeit. Das Buch ist einem barocken Schelmenroman nachempfunden. Zwei Jahre später erschien bereits der zweite Roman, «Stimmgänge». In der Folge entstand ein grosses literarisches Werk. Gerold Späth schrieb auch zahlreiche Hörspiele für das Schweizer Radio. Bei einem Aufenthalt 1980 am Istituto Svizzero in Rom entwickelte er nach dem Vorbild von Picasso und Éluard die Idee, mit Künstlern zusammen sogenannte Künstlerbücher zu gestalten. Mit Bambusfeder und Chinatusche beschrieb er jeweils neun Bücher, die dann von einer Künstlerin oder einem Künstler bearbeitet wurden. Seither sind 68 solcher Editionen entstanden, von denen Gerold Späth im vergangenen Jahr je ein Exemplar der Bibliothek Vadiana in St. Gallen als Schenkung übergeben hat.