Dieses Wochenende treffen sich Delegationen aus neunzig Staaten zur Konferenz, um über Wege zum Frieden in der Ukraine zu reden. Russland nimmt nicht an der Konferenz teil.
Das Wichtigste in Kürze:
- Ziel: Es geht darum, auf dem Bürgenstock einen möglichen Friedensprozess anzustossen.
- Themen: Diskutiert werden die Ernährungssicherheit, humanitäre Aspekte wie der Austausch von Gefangenen und die Sicherheit von Nuklearanlagen.
- Teilnehmer: Laut der offiziellen Teilnehmerliste, die das Aussendepartement (EDA) am Freitag veröffentlichte, nehmen Delegationen aus 92 Ländern und von acht internationalen Delegationen teil teil. Dazu gehören die amerikanische Vizepräsidentin Kamala Harris, der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski, der türkischen Aussenminister Hakan Fidan oder der indische Diplomat Pavan Kapoor. Südafrika hat ebenfalls einen Gesandten geschickt, Brasilien nimmt als Beobachter teil.
- Russland nicht dabei: Zwar orientierte Bundesrat und Aussenminister Ignazio Cassis seinen russischen Amtskollegen Sergei Lawrow über den Gipfel. Weder Russland noch die Ukraine haben gegenwärtig aber ein Interesse, sich an einer Konferenz direkt auszutauschen.
Die wichtigsten Fragen und Antworten zur Bürgenstock-Konferenz
Unter umfassenden Sicherheitsvorkehrungen beginnt am Samstag im Luxusresort auf dem Bürgenstock der Gipfel zum Frieden in der Ukraine – oder auf Englisch: «Summit on Peace in Ukraine».
Zur Unterstützung der Nidwaldner Kantonspolizei beim Schutz der Konferenzteilnehmer sind 4000 Angehörige der Armee und Polizeikräfte aus anderen Kantonen im Einsatz. Der Luftraum über dem Tagungsort ist gesperrt, und die F/A-18-Kampfjets der Schweizer Armee sind mit scharfen Lenkwaffen bewaffnet. Zudem stehen Spezialistinnen und Spezialisten verschiedenster Behörden bereit, um im Notfall zu intervenieren – vom Bundesamt für Cybersicherheit bis hin zum Labor Spiez, das auch die Radioaktivität überwacht.
Der Erfolg der Konferenz hängt zu einem wesentlichen Teil vom guten Willen der Delegationen ab, aber auch von einer umsichtigen Moderation und Kommunikation durch die Schweizer Diplomatie. Jeder Fauxpas schadet dem Friedensprozess – und liefert Steilvorlagen für die russische Desinformation. Der Kreml bagatellisiert das Treffen auf allen Kanälen, scheint aber besorgt zu sein, dass sich in konkreten Fragen der Druck erhöht.
Das Treffen leidet allerdings seit Beginn unter einem Missverständnis: Es handelt sich nicht, wie von Bundespräsidentin Viola Amherd zunächst angekündigt, um einen «Friedensgipfel». Vielmehr geht es darum, die wichtigsten Grundlagen für einen Friedensprozess zu skizzieren.
Die Schweiz organisiert die Konferenz auf Wunsch der Ukraine. Die eingeladenen Staaten sollen über Schritte diskutieren, unter welchen Bedingungen ein Frieden erreicht werden kann. Kiew schwebte zunächst vor, die ukrainische Friedensformel möglichst breit abzustützen. Der 10-Punkte-Katalog von Präsident Wolodimir Selenski sieht unter anderem den Abzug der russischen Truppen und die Rückgabe eroberter Territorien sowie die Errichtung eines Sondertribunals vor. Das ist gegenwärtig aus militärischer Sicht wenig wahrscheinlich.
Inzwischen ist denn auch klar, dass auf dem Bürgenstock vorderhand bloss einzelne Punkte des ukrainischen Friedensplans ein Thema sein dürften, etwa der Schutz der Atomanlagen. Für Bundespräsidentin Viola Amherd wäre es schon ein Erfolg, wenn in einzelnen Bereichen eine Einigung der Konferenzteilnehmer gelingt.
Das Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) hat mit der Ukraine ein Programm erarbeitet. Es soll sowohl einen Austausch im Plenum mit allen Delegationsleitern wie auch spezifische Diskussionen in kleineren Formaten geben. Der Fokus soll auf Themen liegen, von denen eine Vielzahl von Staaten betroffen sind, darunter die nukleare Sicherheit, die freie Schifffahrt, die Ernährungssicherheit und humanitäre Aspekte wie ein Gefangenenaustausch. Diese Punkte sind wichtig, weil es um das Kernkraftwerk Saporischja immer wieder zu Kämpfen gekommen ist. Die Ukraine spielt weltweit zudem im Getreideexport eine wichtige Rolle und ist auf sichere Transportwege angewiesen.
Die Schweiz hat über 160 Delegationen auf höchster Ebene eingeladen, aus allen Kontinenten. Darunter sind neben Staaten auch die EU, die Uno und religiöse Vertreter wie der Vatikan. Mit den zahlreichen Einladungen streben die Schweiz und die Ukraine ein möglichst breites Teilnehmerfeld auf höchster Ebene an.
Am Freitagabend veröffentlichte das EDA die Teilnehmerliste. Es kommen Delegationen aus 92 Ländern und von 8 Organisationen auf den Bürgenstock. Bereits am Freitag angereist ist der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski. Mit dabei sind auch die amerikanische Vizepräsidentin Kamala Harris und praktisch alle Staatschefs der westlichen Staaten. Die Türkei wird vom einflussreichen Aussenminister Hakan Fidan vertreten.
Überraschend ist die Präsenz der Brics-Staaten, der Gemeinschaft Brasilien, Russlands, Indiens, Chinas und Südafrikas: Während Peking nun gar nicht teilnimmt, entsendet Delhi den Diplomaten Pavan Kapoor, den indischen Botschafter in Moskau. Südafrika nimmt mit einem Delegierten bei, Brasilien hat Beobachterstatus. Es ist Russland nicht gelungen, diese wichtigen Länder ausserhalb des westlichen Lagers ganz von einer Reise in die Schweiz abzuhalten.
Die verhältnismässig lange Teilnehmerliste ist deshalb ein erster Erfolg für die Bemühungen.
Die Schweiz hat Russland schliesslich formell nicht eingeladen. Der EDA-Chef Ignazio Cassis hat im Januar am Rande einer Sitzung des Uno-Sicherheitsrats in New York aber dem Aussenminister Sergei Lawrow signalisiert, man lade Russland ein, am Friedensprozess teilzunehmen. Moskau hat jedoch mehrfach verlauten lassen, dass es von der Konferenz wenig halte und nicht an eine Teilnahme denke. Russische Medien diffamieren das Treffen und den Bundesrat seit Wochen.
Cassis hat stets betont, dass es ohne Russland keinen Frieden geben könne. Die Schweiz will mit der Konferenz im besten Fall einen Friedensprozess anstossen. Sie sei überzeugt, dass Moskau im Verlaufe dieses Prozesses einbezogen werden müsse, schreibt das EDA. Im Departement gibt es Überlegungen, Russland doch noch formell einzuladen. Damit müsste aber auch die Ukraine einverstanden sein.
China ist einer der engsten Partner Russlands. Es liefert zivil und militärisch verwendbare Güter, die Moskau für den Krieg dringend benötigt. Zudem ist es der wichtigste Handelspartner Russlands. Peking kommt denn auch eine wichtige Rolle zu. Nimmt es in irgendeiner Form teil, dürfte es einfacher werden, sich auf Kompromisse zu einigen, die auch für Russland akzeptabel sind. Die Schweiz hat sich deshalb stark bemüht, das Reich der Mitte zu einer Teilnahme zu bewegen. Aussenminister Ignazio Cassis reiste dafür im Februar eigens nach China. Auch der Botschafter Gabriel Lüchinger, der die Task-Force für die Konferenz leitet, sprach wiederholt mit Abgesandten Pekings.
Nach dem Besuch des russischen Präsidenten Wladimir Putin in Peking Mitte Mai kehrte der Wind: Die anfänglich freundliche Rezeption der Besucher aus Bern veränderte sich. China ist heute der Konferenz gegenüber kritisch eingestellt.
Das hängt von den Erwartungen und den Teilnehmern ab. Bundespräsidentin Viola Amherd liess über den «Blick» verlauten, dass die Konferenz bereits gelungen sei, weil viele Staaten zugesagt hätten. Am Ende zählt jedoch der Inhalt. Eine Einigung in den Themenbereichen wie der nuklearen Sicherheit oder der Ernährungssicherheit ist möglich. Ob es für mehr reicht, bleibt eine andere Frage. Mit Russland sitzt eine Kriegspartei nicht am Tisch. Ohne Moskau aber kann es keinen Friedensprozess geben.
«NZZ PRO Global» skizzierte drei Szenarien über einen möglichen Ausgang der Konferenz:
- Blamage: Die Teilnehmer einigen sich zwar auf eine gemeinsame Schlusserklärung zu den drei diskutierten Themen Ernährung, Schifffahrt und Atomanlagen. Konkrete Aktionen in Richtung Frieden löst die Konferenz aber nicht aus – im Gegenteil: Russland verbreitet das Narrativ, auf dem Bürgenstock sei es eigentlich primär um zusätzliche Waffenlieferungen an die Ukraine gegangen.
- Erfolg: Die Konferenz ist der Ausgangspunkt für ein Folgetreffen – möglicherweise in Saudiarabien, um Russland eine Option zu bieten, doch noch mitzumachen. Der Gipfel stösst einen eigentlichen Bürgenstock-Prozess an: ein Ausgangspunkt für eine geopolitische Entspannung, ähnlich wie 1973 die Helsinki-Konferenz, aus deren Tradition die OSZE hervorgegangen ist.
- Konfrontation: Es gibt keine gemeinsame Schlusserklärung, sondern ein Zusammenrücken der westlichen Staaten. Der Bürgenstock symbolisiert eine beschleunigte Blockbildung. Die westlich-demokratische Welt entkoppelt sich weiter von den autoritären Staaten und deren imperialem Programm.
Die Schweiz übernimmt immer wieder die Rolle der Gastgeberin von internationalen Konferenzen. Es handelt sich um ein Instrument der Guten Dienste. Beim Treffen auf dem Bürgenstock spielt Bern nicht nur die Rolle des Hoteliers, sondern bestimmt mit Kiew auch die inhaltliche Agenda mit. Mit der Ausrichtung der Konferenz leiste die Schweiz einen wichtigen Beitrag für mehr Sicherheit und Stabilität in Europa, schreibt das EDA. Sie unterstütze die Ukraine auf einem Weg zu einem dauerhaften und gerechten Frieden. Die Schweiz hat im Januar am Rande des WEF bereits das Treffen der Berater zur nationalen Sicherheit zur Ukraine organisiert.
Für die Schweiz ist die Konferenz eine Chance, ihr internationales Profil zu schärfen. Nach dem Beginn des russischen Angriffs stand sie immer wieder in der Kritik, sie tue für die Ukraine zu wenig. Bei den westlichen Partnern war der Ärger gross, dass Bern ihnen die Weitergabe von Kriegsmaterial aus Schweizer Produktion verweigerte. Auch die angeblich zu langsame und passive Rolle bei den Sanktionen und der Konfiskation russischer Vermögen gab zu reden.
Die Schweiz kann auf dem Bürgenstock nun ihre Fähigkeit demonstrieren, einen derartigen Grossanlass gut über die Bühne zu bringen. Die Teilnahme von zahlreichen Spitzenpolitikern wird international zu einem grossen Medienecho führen. Die Schweiz darf mit guter PR und schönen Bildern rechnen. Ob die Konferenz längerfristig etwas bringt, steht dagegen auf einem anderen Blatt.
Mitarbeit: Georg Häsler, Julia Monn, Tobias Gafafer.