Zu Beginn von Putins fünfter Amtszeit bleibt nur wenig beim Alten. Was die neuen Köpfe über die Pläne des russischen Präsidenten aussagen.
In der russischen Politik werden Personalentscheidungen zu ungewöhnlichen Zeitpunkten veröffentlicht. Am vergangenen Freitagmorgen um 5 Uhr erfuhr die Öffentlichkeit aus dem Telegram-Kanal des Staatsduma-Vorsitzenden Wjatscheslaw Wolodin, dass Michail Mischustin Ministerpräsident bleibt. Die Liste der vorgeschlagenen Minister wurde am Samstagabend publik.
Sonntagabend gar war es, als der Kreml die Minister und Chefs von Sicherheitsbehörden bekanntgab, die direkt Präsident Wladimir Putin unterstehen. Die Entscheidung, Verteidigungsminister Sergei Schoigu durch den Ökonomen und bisherigen Vizeministerpräsidenten Andrei Belousow zu ersetzen, wurde die Sensation der jüngsten Personalwechsel im russischen Regime.
Das Parlament plustert sich auf
Bald werden es 25 Jahre sein, dass Putins Aufstieg in die höchsten Sphären der Macht mit der Ernennung zum Regierungschef begann. Vor Wochenfrist trat er seine fünfte Amtszeit an und nahm personelle Änderungen vor. Je länger er an der Macht ist, desto mehr konzentriert sich alles auf ihn. Die unter verfassungswidrigen Umständen zustande gekommenen Verfassungsänderungen von 2020 geben dem Parlament zwar die Kompetenz, den Regierungschef und alle vorgeschlagenen Minister einzeln zu bestätigen. Wolodin wurde nicht müde, zu betonen, wie sehr dadurch die Verantwortung der Staatsduma gewachsen sei.
In Wahrheit aber zeigten gerade die vergangenen Tage, wie sehr die Legislative dekoratives Element in einem Räderwerk ist, das vollständig vom Präsidenten bestimmt und kontrolliert wird. Auch um Inhaltliches geht es nur in zweiter Lesung. Die Minister und andere Funktionäre setzen selten eigene Akzente. Ihnen obliegt es, die Politik umzusetzen, die Putin in seiner Rede zur Nation im März vorstellte und am Tag nach seiner Inauguration in einem neuen sogenannten Mai-Erlass für die nächsten sechs bis zwölf Jahre der Exekutive zur Umsetzung auftrug. Darin werden die ambitiösen Ziele formuliert, unter anderem bei der Erlangung technologischer Führung, dem wirtschaftlichen Vorankommen und der Förderung von Mutterschaft, Familie und Jugend.
Putin muss Clan-Interessen ausbalancieren
Reine Staffage sind der Ministerpräsident, dessen Stellvertreter, die Minister und die wichtigsten Köpfe der Präsidialverwaltung gleichwohl nicht. Putins Herrschaft zeichnete sich immer dadurch aus, dass er der Dreh- und Angelpunkt eines Systems ist, das von verschiedenen Clans beeinflusst wird. Um seine eigene Macht abzusichern – das eigentliche Ziel jedes autoritären Herrschers –, muss er deren Ansprüche berücksichtigen, sie aber auch gegenseitig in Schach halten. Nur wer mit allen Akteuren gut kann und es obendrein versteht, bei Putin nicht den Eindruck zu erwecken, er warte nur auf dessen Abgang, kann sich auf längere Frist an Schlüsselposten halten. Ministerpräsident Mischustin konnte deshalb im Amt bleiben.
Der ehemalige Chef der Steuerbehörde habe seine Rolle als Koordinator zwischen den verschiedenen Anliegen und Machtzentren gefunden, schreibt der Journalist Andrei Perzew bei Carnegie Politika. Er sei für niemanden gefährlich, aber effektiv. Mischustin konnte zwar keine neuen Leute aus seinem Umfeld ins Kabinett holen. Aber er dürfte ob Belousows Versetzung aufgeatmet haben. Die Wirtschaftspolitik koordiniert jetzt der auch für Energiefragen zuständige Vizeministerpräsident Alexander Nowak. Putins Wirtschaftsberater Maxim Oreschkin, der zu einem der stellvertretenden Leiter der Präsidialverwaltung aufstieg, wird sich ebenfalls einmischen.
Belousows Wechsel ins Verteidigungsministerium zeigt den allgemeinen Trend zur Normalisierung des Kriegs, ebenso wie die Stärkung Denis Manturows, der als Verantwortlicher für Industrie und Rüstungspolitik zum ersten stellvertretenden Regierungschef aufgerückt ist. Entgegen den Erwartungen mancher Auguren schuf Putin keine neuen Gremien wegen der «Spezialoperation». Nicht der Krieg übernehme die Wirtschaft, sondern die Wirtschaft übernehme den Krieg, meinte die in Berlin lebende russische Politologin Jekaterina Schulmann. Der Krieg wird in den Alltag von Wirtschaft und Gesellschaft eingebettet, als ein langfristiger Zustand, der über aktive Kampfhandlungen in der Ukraine hinaus bestimmend sein wird, solange dieses Regime an der Macht ist.
Die zweite Generation übernimmt
Die auf den ersten Blick wenig spektakulären Personalentscheidungen – abgesehen von der Personalie Schoigu und Belousow – haben aber noch eine Dimension, die über den Umgang mit dem Krieg hinaus von Bedeutung ist. Dosiert nimmt Putin Justierungen vor, die auf eine Absicherung der Macht für sich und seine engste Umgebung im Falle seines Abgangs hinweisen. So übernimmt mit Boris Kowaltschuk, dem Sohn von Putins engem Freund Juri Kowaltschuk, erstmals ein Familienmitglied dieses Clans ein herausgehobenes Amt, den Vorsitz des Rechnungshofs.
Dmitri Patruschew, der Sohn des langjährigen Sekretärs des Sicherheitsrats und ideologischen Gehilfen Putins Nikolai Patruschew, steigt zum Vizeministerpräsidenten auf. Patruschew senior verliert zwar seinen bisherigen Posten, den er sechzehn Jahre lang ausgefüllt hatte, und ist nur noch Präsidentenberater. Das macht ihn weniger mächtig, aber sein ideologischer Einfluss auf Putin misst sich weniger am Posten als an seinem Vertrauensverhältnis zum Präsidenten.
Selbst die Beförderung zahlreicher Gouverneure trägt feudalistische Züge: Mit dem neuen Verkehrsminister Roman Starowoit stärken andere Putin-Freunde, die Rotenbergs, ihren Einfluss auf den wichtigen Transportsektor. Der neue Energieminister Sergei Ziwiljow, bisher Gouverneur der sibirischen Kohleregion Kusbass, steht dem Rohstoffhändler Gennadi Timtschenko, einem Freund Putins, nahe und ist dazu noch mit einer als Putins Nichte zweiten Grades bezeichneten Frau verheiratet.
Auch eine Figur, deren Karriere besondere Aufmerksamkeit der Kreml-Beobachter hervorruft, ist in Putins Nähe zurückgekehrt: Alexei Djumin, einst Leibwächter Putins, zuletzt Gouverneur in der für ihre Rüstungsindustrie bekannten Region Tula, wird immer wieder als möglicher Nachfolger des alternden Präsidenten gehandelt. Ob ihn seine neue Funktion als Berater in der Präsidialverwaltung dieser Rolle näherbringt, ist strittig. Immerhin ist er für den Staatsrat zuständig, ein in der neuen Verfassung gestärktes Gremium mit nebulösen Kompetenzen, in dem manche schon einen Ort für Putins Ruhestand gesehen haben wollten.