Für die Regierungskoalition von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu ist der Richterspruch eine grosse Gefahr – denn seine Koalitionspartner schäumen vor Wut.
Es ist ein Entscheid, der die israelische Gesellschaft von Grund auf verändern könnte: Ab Montag soll ein Teil der ultraorthodoxen Juden, die sich im wehrpflichtigen Alter befinden, keine staatliche Unterstützung mehr für ihr Thora-Studium erhalten. Das entschied Israels oberstes Gericht am Donnerstagabend. Die israelische Generalstaatsanwaltschaft hatte dem Obersten Gericht zuvor am Donnerstag mitgeteilt, es gebe keinerlei rechtliche Grundlage mehr, die sogenannten Haredim vom Militärdienst auszunehmen. Grundsätzlich schliesst sich das Oberste Gericht mit seinem Entscheid dieser Sichtweise an: Damit ist der verpflichtende Militärdienst auch für Ultraorthodoxe wahrscheinlicher geworden.
Grundsätzlich gilt in Israel: Alle jüdischen Israeli müssen Militärdienst leisten – 32 Monate die Männer, 24 die Frauen. Wer allerdings bis zu einem gewissen Alter eine Jeschiwa – eine religiöse Schule – besucht, kann nicht eingezogen werden und erhält Staatsgelder, damit er sich vollständig dem Thora-Studium widmen kann. Als die Regelung nach der Staatsgründung Israels 1948 eingeführt wurde, betraf sie nur rund 400 Jeschiwa-Studenten. Heute machen die Haredim rund 13 Prozent der israelischen Bevölkerung aus, laut Schätzungen wird 2035 schon knapp ein Fünftel aller Israeli ultraorthodox sein. Im vergangenen Jahr waren 66 000 Haredim vom Militärdienst befreit – so viele wie noch nie.
Was bedeutet der Entscheid?
Eigentlich sollte mit der Ausnahmeregelung für die Ultraorthodoxen schon seit mehreren Jahren Schluss sein. 2017 urteilte Israels oberstes Gericht, dass eine pauschale Ausnahmeregelung ungültig sei. Es wies die Regierung an, ein neues Gesetz auszuarbeiten, das zu einer verstärkten Rekrutierung von Haredim führen sollte. Kurz vor Fristende im vergangenen August verabschiedete die Regierung eine Resolution, in der die Armee angewiesen wurde, bis zum 31. März 2024 auf die Rekrutierung von Jeschiwa-Schülern zu verzichten. Die Argumentation: Der Beschluss ändere nicht die Rechtslage, sondern sorge lediglich dafür, dass die gegenwärtige Rechtslage nicht umgesetzt werde, während man nach einer Lösung suche.
In langen Diskussionen zwischen dem Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu und den Führern der ultraorthodoxen Parteien, die an der Regierung beteiligt sind, wurde allerdings keine Lösung gefunden. Immer wieder beantragte die Regierung in den vergangenen Tagen einen Aufschub, um dem Obersten Gericht einen Entwurf vorzulegen, wie mehr Haredim für die Armee rekrutiert werden können.
Am Donnerstag lief die letzte Frist ab. Ministerpräsident Netanyahu hatte erneut um dreissig Tage mehr Zeit gebeten, die Richter lehnten dies allerdings ab – und entschieden nun, dass die Staatsgelder für einige der Haredim ab Montag nicht mehr fliessen sollen. Der Zahlungsstopp ab Montag betrifft zunächst nur jene Studenten der Thora-Schulen im wehrpflichtigen Alter, die sich seit dem 1. Juli 2023 nicht beim Einberufungsbüro gemeldet haben. Zu diesem Zeitpunkt verfiel die Ausnahmeregelung, und die Regierung entschied, die Rechtslage nicht umzusetzen. Laut dem israelischen Fernsehsender Kanal 12 betrifft das knapp ein Drittel der 180 000 Thora-Schüler, die derzeit Sozialleistungen erhalten.
Laut der «Jerusalem Post» wird der Entscheid für alle Ultraorthodoxen und für alle Jeschiwa-Schulen de facto erst ab dem 9. August umgesetzt werden, wenn das Schuljahr der Thora-Schulen endet. Die Zeitung hält fest, dass die am Donnerstag getroffene Entscheidung rechtlich gesehen nur eine einstweilige Verfügung sei. Ein erweitertes Gremium von neun Richtern wird im Mai laut der Zeitung final urteilen. Sollte es zu Neuwahlen kommen, wäre der Prozess zudem auf Eis gelegt.
Die Regierung Netanyahu könnte zerbrechen
Das könnte schon bald der Fall sein. Denn die ultraorthodoxen Parteien schäumen vor Wut über den Entscheid, der bereits in einigen Tagen einen erheblichen Teil ihrer Wählerschaft von der staatlichen Unterstützung abschneiden wird. Der Vorsitzende der Schas-Partei, Arye Deri, nannte den Entscheid am Donnerstag «ein Kainsmal und eine niegesehene Schikane der Thora-Schüler im jüdischen Staat».
Die Wehrpflicht für Ultraorthodoxe ist längst zum grössten Streitpunkt in der Regierung geworden – und zur Gefahr für den Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu, dessen Koalition zerbrechen könnte. Während die Interessenvertreter der Haredim mit dem Ausstieg aus der Regierung drohen, haben sich wichtige Mitglieder seiner eigenen Partei, wie Verteidigungsminister Yoav Gallant, für die Wehrpflicht für Haredim ausgesprochen. Benny Gantz, Mitglied des Kriegskabinetts und grösster innenpolitischer Rivale von Netanyahu, begrüsste den Entscheid des Gerichts am Donnerstag. Er hatte zuvor angekündigt, die seit Kriegsbeginn bestehende Einheitsregierung aufzulösen, falls die Ausnahmeregelung für die Haredim bestehen bliebe.
Insbesondere seit dem Kriegsausbruch am 7. Oktober ist der Personalbedarf der israelischen Armee hoch. Erst vor kurzem hat das Verteidigungsministerium einen Gesetzesentwurf vorgelegt, wonach die verpflichtende Dienstzeit auf volle drei Jahre und das Dienstalter für Reservisten von 40 auf 45 Jahre erhöht werden soll. Die allermeisten Israeli empfinden es daher als zutiefst ungerecht, dass die Ultraorthodoxen keinen Dienst leisten müssen. Laut einer Umfrage des Jewish People Policy Institute vom März befürwortet eine Mehrheit von 79 Prozent der Israeli die Dienstpflicht für Ultraorthodoxe – bei kaum einem anderen Thema herrscht in Israel so grosse Einigkeit.