Die Verbreitung von Bildern misshandelter Terrorverdächtiger ist ebenso wenig Zufall wie die Mordanschläge des Kremls auf Oppositionelle. Seine Gegner werden so eingeschüchtert. Doch Gewalt als Selbstzweck ist tückisch.
Folter findet üblicherweise im Verborgenen statt. Doch seit dem verheerenden Anschlag vom Freitag feiert Russlands Repressionsapparat die Misshandlung der Terrorverdächtigen geradezu öffentlich: Videos auf kremlnahen Kanälen zeigen die Festgenommenen in erniedrigenden Posen: auf den Knien. Einem fehlt das halbe Ohr, ein zweiter liegt am Boden, während ein Draht Stromstösse an seine Geschlechtsteile abgibt. Vor Gericht erscheinen die vier Männer grün und blau geschlagen, mit Blutergüssen. Sie können sich kaum aufrecht halten.
Solche Bilder erscheinen nicht zufällig, sie sind Teil einer Strategie: Moskau setzt auf eine Propaganda der Gewalt, um der Bevölkerung zu zeigen, dass jene, die 139 Menschen ermordet haben, maximal bestraft werden: Auge für Auge. Radikale Exponenten wie Dmitri Medwedew überbieten sich in Forderungen nach der Todesstrafe für diese «Tiere». Putins Versprechen, es werde eine sorgfältige Aufklärung geben, wirkt neben dieser Vorführung wie ein Hohn.
Fast wie ein mittelalterlicher Herrscher
Die Folterpraktiken könnte man als temporären Exzess eines Sicherheitsapparats werten, der machtlos war, den tragischen Anschlag zu verhindern. Doch diese Erklärung greift zu kurz, denn spätestens seit Beginn des Angriffskrieges in der Ukraine setzt Putin öffentlich zelebrierte Gewalt gezielt als Mittel der Innen- und Aussenpolitik ein.
Die Russen wenden sie gegen ukrainische Kriegsgefangene an, die unter menschenunwürdigen Bedingungen gehalten und im Lager Oleniwka möglicherweise gar ermordet wurden. Der Jet des aufständischen Militärführers Jewgeni Prigoschin explodierte in der Luft, der Oppositionelle Alexei Nawalny wurde 2020 vergiftet und kam nun im Straflager um. Sein Mitstreiter überlebte Mitte März einen brutalen Hammer-Angriff in Litauen nur mit Glück. Auch die Drohung an den Westen mit dem Atomkrieg fällt unter die Propaganda der Gewalt.
Fast wie mittelalterliche Herrscher, die einst Hinrichtungen vor grossem Publikum zur Festigung ihrer Herrschaft nutzten, hofft Putin auf eine abschreckende Wirkung. Reale und imaginierte Feinde, die sich im paranoiden Weltbild des Kremls ständig gegen Russland verschwören, sollen in Angst leben. Wer trotzdem weiterkämpft, spürt die ganze Wucht von Russlands Polizei und Militärmaschine: So regneten seit Freitag wieder fast hundert Drohnen und Raketen auf die Städte der Ukraine nieder – nicht weil das Land etwas mit dem Terroranschlag zu tun hatte, sondern weil Putin diese Botschaft senden will.
Die Strategie verfehlt ihre Wirkung nicht. Russlands Opposition ist tot oder im Exil, die Menschen im Land sind in Konformismus verfallen. Die Ukrainer kämpfen zwar weiter und halten mehr oder weniger die Front. Doch die endlosen Wellen von angreifenden Soldaten, explodierenden Artilleriegeschossen und einschlagenden Raketen bringen sie an den Rand ihrer Kräfte. Und im Westen droht Putin einen Nimbus der Unbesiegbarkeit zu erhalten. Das schiere Ausmass der Brutalität stumpft die Menschen ab und schafft ein Gefühl der Aussichtslosigkeit.
Putin als Getriebener
Und doch hat die demonstrative rohe Gewalt ihre Tücken. Zum einen provoziert sie Widerstand, wie auch Putin in der Ukraine nach über zwei Jahren Angriffskrieg mit minimalen Resultaten und horrenden Verlusten feststellen muss. Zum anderen schafft sie zwar politisch ein Klima der Angst. Daraus entsteht aber keine Loyalität. Zweckbündnisse mit dem Westen bei der internationalen Terrorbekämpfung können gar nicht erst entstehen. Der alternde Putin wirkt wie ein Getriebener der immer einflussreicheren faschistischen Meinungsführer in der russischen Gesellschaft.
Noch gefährlicher für seine eigene Herrschaft ist aber, dass ein Weltbild voller Verschwörungen, deren Zerschlagung ständig noch mehr Gewalt erfordert, keine Differenzierung zulässt. Die mutmasslichen islamistischen Terroristen, deren Vorbereitungen wohl auch deshalb nicht bemerkt wurden, weil der Geheimdienst mit der Bekämpfung imaginärer ukrainischer Feinde beschäftigt war, könnten ein Weckruf sein. Stattdessen sucht der Kreml-Herrscher Zuflucht in einer ideologischen Scheinwelt.