Noch kein Lamborghini war stärker, noch keiner stand so unter Strom – Grund genug, den Revuelto auf der Rennstrecke an seine Grenzen zu treiben.
PHEV, mHEV, sHEV, E-REV, BEV, FCEV – wer steigt bei den Kürzeln für automobile Elektrifizierung eigentlich noch durch? Für Hardcore-V12-Fans gibt’s allerdings Entwarnung, die müssen sich nichts davon merken. Dafür aber die neue Abkürzung HPEV.
Das ist eine Erfindung von Lamborghini, bedeutet «High Performance Electrified Vehicle» und meint das neue Modell Revuelto. Der Nachfolger des Aventador ist das erste elektrifizierte Supercar mit Plug-in-Hybrid aus Sant’Agata Bolognese, das erste von Lamborghini mit mehr als 1000 PS und das erste mit einem Leistungsgewicht von 1,75 PS pro Kilogramm.
Lambo-Chef Stephan Winkelmann kann die Bedeutung des Revuelto gar nicht hoch genug hängen: «Für mich hat der Miura die Marke Lamborghini von 0 auf 100 gebracht,» urteilt er im Nachhinein, «der nächste Meilenstein war der Countach mit seinen Scherenflügeltüren und dem Cab-Forward-Design. Und jetzt haben wir wieder etwas völlig Neues: unser erstes Hybrid-Auto.» Ebenso wichtig ist ihm die Fortführung der V12-Reihe, die stets die absolute Lamborghini-Spitze markierte, begonnen beim Countach über den Diablo, Murcielago und den Aventador bis hin zum neuen Revuelto.
Dessen Hauptherzkammer ist tatsächlich wieder ein reiner V12-Saugmotor, der allein aus 6,5 Litern Hubraum 825 PS und 725 Newtonmeter maximales Drehmoment herausholt. Erstmals aber stehen ihm drei je 150 PS starke Elektromotoren zur Seite, genauer gesagt vorne zwei Axialflussmotoren und hinten ein Radialflussmotor integriert in ein Achtgang-Doppelkupplungsgetriebe. Zusammen sind sie für 1015 PS verantwortlich.
Aerodynamisch folgt auch der neue Lamborghini seinem Vorgänger. Im Vergleich zur letzten Aventador-Variante Ultimae bietet er allerdings 33 Prozent mehr Abtrieb vorne – 74 Prozent mehr sind es insgesamt, jeweils gemessen bei Volllast. Als Aerodynamik-Highlights gelten die Luftführung über dem Sportler, der Heckdiffusor mit genug Platz für maximale Grösse und die mögliche Dreifachposition des Heckflügels.
Ebenso ausgeklügelt ist die Luftführung an den Bremssätteln, die die monumentalen 410-Millimeter-Carbon-Keramikbremsen bedienen. Die elektronische Momentenverteilung (Torque Vectoring) – erstmals in einem Lamborghini zu finden – arbeitet ständig, vorne unter anderem zum Stabilisieren in schnellen Kurven.
Länger als sonst am Design getüftelt
Aber ein Lambo soll ja zunächst schon im Stand durch sein Design überzeugen. Geblieben sind die typischen, sich durch und über den gesamten Sportwagen ziehenden Y-Formen. «Wir haben trotzdem beim blanken Papier angefangen und dann das Design um den Motor herum entwickelt,» erzählt Chefdesigner Mitja Borkert. «Bevor wir uns für die endgültige Gestaltung entschieden haben, entstanden sage und schreibe 17 Ton-Modelle.»
Auffällig ist besonders, dass der V12 völlig ohne Abdeckung ins Freie röhren und atmen darf – so zelebriert Lamborghini den langsamen Tod eines legendären Top-Verbrennermotors. Nicht weniger auffällig sind die sechseckigen Auspuffendrohre, die erstmals bei Lamborghini erhöht eingebaut sind. «Das ist plakativ und war mein persönlicher Wunsch,» gibt Motorrad-Fan Borkert zu, «es ist technisch nämlich nicht notwendig.»
Trotzdem hilft es beim Gewichtsparen, weil der Weg der Abgase auf diese Weise extrem kurz ist und sie wenig Rohgeflecht benötigen. Übrigens: Es gibt aussen nicht ein einziges Designdetail, das darauf hinweist, dass dieser Lambo ein Hybrid ist.
Auch wenn der Allrad-Revuelto kompakter aussieht als der Aventador, ist er doch grösser. Der Radstand ist um acht Zentimeter gewachsen. Die Kopffreiheit hat um 26 Millimeter zugenommen, der Fussraum um 84 Millimeter. Das alles macht sich bereits positiv bemerkbar, wenn man – wie auf der Rennstrecke notwendig – mit Helm einsteigt. Die Scherentüren öffnen etwas weiter als beim Aventador, die Schweller sind schmaler, kurz: Schon das Entern ist eine Freude, auch für weniger biegsame Piloten.
Und dann entdeckt man ein futuristisches Jet-Cockpit. Im unten abgeflachten Carbon-Lederlenkrad mit allen wichtigen Bedienknöpfen sind die beiden links und rechts oben platzierten Drehrädchen die Spassmacher: Links wählt man den gewünschten Fahrmodus (Città, Strada, Sport, Corsa, ESC off), rechts den Elektromodus (Recharge, Hybrid, Performance).
Insgesamt sind 13 Variationen denkbar, weil nicht jede Einstellung auf der einen Seite mit jeder auf der anderen kombinierbar ist. Mario Fasanetto, bei Lamborghini-Chefinstruktor und «Super-Mario» genannt, rät beim Ritt über die Rennstrecke zur Kombination «Race» und «Performance». Nur dann erfahre man die wahre Kraft von 1015 PS.
Um Kritikern gleich den Fahrtwind aus den Spoilern zu nehmen: Eine Tour auf öffentlichen Strassen ist nicht eingeplant und eine langsame Runde mit reinem Elektroantrieb auf einer Rennstrecke nicht zielführend. Deshalb glauben wir Lamborghinis Angaben einfach mal, dass der Revuelto rein elektrisch rollen kann, zum Beispiel aus dem Wohnquartier, und dabei ziemlich wenig Geräusche macht. Allein deshalb soll der Revuelto die CO2-Emissionen im Vergleich zum Aventador Ultimae um 30 Prozent reduzieren können. Wir gehen aber davon aus, dass das für viele Kunden nicht der Hauptgrund für einen Revuelto-Kauf sein dürfte.
Die Konnektivität lassen wir uns auch erklären, ohne in die Tiefen der Software einzudringen: Der Revuelto ist nach Urus und Huracan Evo der dritte Lambo mit Vernetzung, das Navigationssystem stammt aus dem Urus. Wie es Ferrari schon vorgemacht hat, sieht der Beifahrer im Revuelto nun auch einen Touchscreen vor sich, mit dem er spielen kann.
Mit zwei Fingern kann man vom 8,4 Zoll grossen mittigen Bildschirm Apps und Informationen nach links auf das 12,3 Zoll grosse Kombiinstrument oder nach rechts auf den 9,1 Zoll grossen Beifahrerbildschirm «swipen». Wer will, kann Alexa-Sprachsteuerung aktivieren, ein Notrufsystem und Over-the-Air-Updates gibt es ebenfalls. Auch die Liftfunktion zum Anheben der Fahrzeugfront auf Knopfdruck testen wir nicht, die Randsteine der Rennstrecke in Vallelunga sind recht flach. So ein Auto will schliesslich gefordert werden, und genau das tun wir jetzt auch.
Auf der Rennstrecke ist er in seiner Wohlfühlzone
Also: Sitz einstellen, Lenkrad anpassen, die rote Klappe über dem Starterknopf (Jetschalter) nach oben klappen, zünden. Der V12 – mit 218 Kilogramm immerhin 17 Kilo leichter als das Aggregat aus dem Vorgänger – meldet sogleich seine Fahrbereitschaft. Dann Bedienung der Achtgang-Doppelkupplung wählen (auf der Rennstrecke natürlich «M» für manuelle Schaltung über die Schaltpaddel, die an der Lenksäule angebracht sind). Dann schnell das neue Instrumentengrafik-Design mit weniger Farben als bisher bewundern und los geht es.
Schnell werden die 21-Zoll-Räder vorne und 22-Zöller hinten warm. Mit Launch-Control schiesst der Lambo im besten Falle in 2,5 Sekunden von 0 auf 100 km/h. Wir lassen es anfangs etwas ruhiger angehen, aber zügig werden wir schneller. Die Kurven in Vallelunga kann man sich bald leicht merken, zumal es mehrere enge Zweiter-Gang-Kurven gibt, was bedeutet, dass man das Lenkrad zwar nicht loslassen muss, aber am vollen Anschlag der Arme ist. Was nicht gut zu den Schaltpaddeln an der Lenksäule passt – besser wären sie direkt am Lenkrad.
Die Haftung an der Fahrbahn ist gigantisch. Will man das Heck unruhig machen (Gewichtsverteilung 44 Prozent vorne und 56 hinten), muss man es schon gewaltsam dazu zwingen, was aus den engen Kehren manchmal gelingt. Tempo 250 und mehr auf der Start-Ziel-Geraden ist kaum zu spüren (für die möglichen 350 km/h Spitze ist hier mangels Länge keine Chance), und die grossen Bremsen samt Luftbremse durch Aufstellen des Heckflügels lassen vergessen, dass man hier trotz Carbonkarosserie fast 1,8 Tonnen supersportlich über den Asphalt treibt.
Die Lenkung ist angenehm direkt, dank der Hinterradlenkung zirkelt man auf den Punkt durch die Kurve. Und dank dem Platzangebot fühlt man sich nirgends beengt. Sportlichen Fahrern raten wir jedoch von Anfang an zu den zweiteiligen Sportsitzen – die Komfortvariante ist nicht in der Lage, dem Körper in schnellen Kurven ausreichenden Seitenhalt zu bieten.
Was uns fehlt, ist eine Hochschalt-Anzeige – in keinem der von uns gefahrenen Exemplare tauchte sie auf, obwohl laut Lamborghini in jedem eine im Instrumentenscreen sein sollte. Immerhin wechselt die angenehm grosse jeweilige Gangziffer-Anzeige auf Rot, wenn man an der Drehzahlgrenze von mehr als 9000 Umdrehungen angekommen ist und hochschalten sollte.
An die Blinkerschalterposition muss man sich gewöhnen: Je ein Knopf für links und rechts befindet sich in der linken Lenkradspeiche, mittig dazwischen der Aus-Knopf. Der Motorklang kommt unterm Helm nur verfälscht an, ist aber tief und kraftvoll. Von aussen klingt ein Revuelto wie ein Fast-Rennwagen.
Zweifellos ist Lamborghini der Ritt auf dem Hybridschwert gut gelungen – auch, weil der V12 im Auto das Mass aller Dinge bleibt. Das hat seinen Preis: 422 000 Euro netto (509 500 Franken) kostet so ein Spielzeug, mit ein paar Annehmlichkeiten aus dem Personalisierungsprogramm «ad personam» auch nochmals 100 000 bis 150 000 Euro zusätzlich. Dafür hat man aber dann auch einen echten HPEV.