Präsident Macron sendet Zeichen der Stärke aus, doch er verfügt über nur zwei Divisionen an konventionellen Bodentruppen. Seine Truppen könnten die Ukraine dennoch erheblich entlasten.
«Emmanuel Macron sagt, er wolle Bodentruppen in die Ukraine schicken: Das ist kein gutes Zeichen, das ist ein Zeichen, dass uns der Westen aufgegeben hat», spottet ein ukrainischer Stand-up-Comedian: «Die Deutschen schicken uns keine Taurus, die Amerikaner kein Geld, dafür Macron aber seine Armee: wohl, um uns zu zeigen, wie man kapituliert.» Der bittere Humor des dritten Kriegsjahrs.
Die Lage ist tatsächlich ungemütlich – in der Ukraine und darüber hinaus. Die russische Armee ist entlang der Kontaktlinie praktisch überall in der Offensive. Die ukrainische Boden-Luft-Verteidigung erhält zu wenig Nachschub, weshalb die Angriffe aus Distanz die kritischen Infrastrukturen empfindlich treffen. Die Unterstützung aus dem Westen fliesst zäh. Die Kreml-Propaganda erzeugt Wirkung im Ziel.
Macrons Muskelspiele – als Boxer in den sozialen Netzwerken, aber auch als potenzieller Kriegspräsident – erscheinen deshalb geradezu antizyklisch: Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine suchte Frankreich weiter den Dialog mit dem Kreml. Bei den Waffenlieferungen liegt Paris weit hinter Berlin zurück. Doch ausgerechnet jetzt, wo selbst die amerikanische Hilfe blockiert ist, will Macron je nach Lageentwicklung sogar die eigene Armee in die Ukraine schicken.
«Le bonzaï français»
Es ist gut möglich, dass der französische Präsident ein Signal der strategischen Ambiguität aussenden will: Der Kreml soll nicht zu sicher sein, wie kriegsmüde der Westen wirklich ist. Auch wenn Paris einen solchen Schritt kaum im Alleingang unternehmen wird, muss die Drohung Macrons mit realen Fähigkeiten hinterlegt sein.
Was wäre also zu erwarten, falls den grossen Worten auch tatsächlich Taten folgten? Wie würde ein solcher Einsatz tatsächlich aussehen? Was könnte Frankreich in der Ukraine konkret bewirken?
Die französischen Streitkräfte setzen sich aus drei Armeen zusammen: der Armée de l’Air et de l’Espace mit den Rafale- und Mirage-Kampfflugzeugen, der Marine nationale, deren Flaggschiff, der Flugzeugträger «Charles de Gaulle», gegenwärtig vor der Küste Benins kreuzt, und schliesslich der Armée de Terre. Ausserdem unterhält Frankreich ein eigenes Arsenal an Nuklearwaffen, die Force de Frappe.
Im Gegensatz zur deutschen Bundeswehr sind die französischen Armeen in der Lage, auch ohne Nato-Partner Krieg zu führen. Der Massstab hält sich allerdings in Grenzen: Der Armée de Terre sind nur noch zwei Divisionen konventioneller Bodentruppen unterstellt, also rund zweimal 20 000 Soldatinnen und Soldaten.
Zum Vergleich: 1989, am Ende des Kalten Kriegs, bestand das französische Heer aus drei Korps mit insgesamt zehn Divisionen und einem Verband für schnelle Aktionen. Während des Kriegs gegen den Terror reduzierte Paris den harten Kern seiner Streitkräfte auf ein Minimum. In einem Papier der französischen Nationalversammlung von 2021 ist vom «bonzaï français» die Rede: Es ist alles da, aber im Kleinstformat.
Defensiver Einsatz mit maximal einer Division
Mit Blick auf die vorhandenen Kräfte und Fähigkeiten dürfte ein Einsatz der französischen Armee in der Ukraine auf folgenden operativen Annahmen basieren:
- Einsatz einer Division: Frankreich wird maximal die Hälfte der konventionellen Bodentruppen dem Risiko direkter Kampfhandlungen aussetzen. Die zweite Division hält sich als Reserve bereit, um eine Ausweitung des Krieges zu verhindern. Bereits heute steht ein Bataillon (600 bis 1000 Soldaten) unter dem Codewort «Aigle» permanent in Rumänien. Bei einer Eskalation könnte der Truppenkörper rasch auf die Grösse einer Brigade (5000 bis 6000 Soldaten) aufwachsen.
- Defensive Ausrichtung: Mit dem Kräfteansatz einer Division ist kein Angriff möglich. Dazu braucht es eine Überlegenheit von mindestens drei zu eins. Auf der anderen Seite der Kontaktlinie stehen rund 300 000 russische Soldaten. Denkbar wäre, dass die französischen Truppen als Reservekraft eine ukrainische Gegenoffensive entlasten. Viel wahrscheinlicher ist aber ein punktueller Einsatz an einem neuralgischen Punkt, um einen russischen Sieg zu verhindern. Frankreich folgte dem Konzept der «dissuasion»: Dem Gegner soll vom nächsten Schritt «abgeraten» werden (dissuadere: lat. abraten). Die französischen Bodentruppen in der Ukraine wären für den Kreml ein vorgeschobener Stolperdraht mit der eigenen Force de Frappe als Drohkulisse.
- Verbund mit Partnern: Frankreich wäre in einem Ukraine-Einsatz nicht allein. Zum einen müssten die Verbände in die ukrainischen Kommandostrukturen eingebunden werden, um einen effektiven Mehrwert zu bringen. Zum andern würde Frankreich eine solche Expedition nicht ohne die Unterstützung gewichtiger Nato-Partner riskieren. Im Vordergrund stehen Polen, Rumänien und vor allem die Briten, die bereits jetzt in der Ukraine präsent sind. Politisch dürfte es auf eine Wiederbelebung der Entente cordiale zwischen London und Paris hinauslaufen.
Nach Lehrbuch wird der Einsatzraum einer Division auf 50 mal 30 Kilometer festgelegt, dazu ein Feld der «operativen Tiefe» von maximal 50 Kilometern. Modernere Modelle sprechen von konzentrischen Schwergewichtszonen mit einem Radius von 50 bis maximal 80 Kilometern. Innerhalb dieses Raums ist die Division einem Gegner räumlich und zeitlich überlegen, könnte also einen Angriff abwehren.
Drei Varianten plus Vorstufe
Zur Unterstützung und als Projektion der militärischen Stärke würde die «Charles de Gaulle» ins östliche Mittelmeer verlegt werden. Damit wäre ein Teil der Rafale-Jets in der Nähe des Einsatzraums, um den Luftraum über der französischen Schwergewichtszone zu beherrschen. Entscheidend wäre ausserdem ein detailliertes Lagebild, das nur in enger Zusammenarbeit mit der Nato erstellt werden kann.
Frankreich fehlen Kampfjets der fünften Generation wie der F-35, der wie ein fliegender Datenstaubsauger funktioniert. Die Informationsüberlegenheit dank modernster Technologie ermöglicht es kleineren Armeen, den «lack of mass» zu kompensieren, also gegen ein Massenheer zu bestehen, wie dies in westlichen Doktrin-Papieren fast beschwörend festgehalten wird. Der Ukraine-Einsatz wäre ein erster Testfall für diese Theorie.
Konkret sind drei Varianten plus eine Vorstufe in der Republik Moldau denkbar:
Die erste und die dritte Variante wären vor allem strategisch ausgerichtet und hätten politische Symbolkraft: Bei einem russischen Durchbruch dürfte die Vertreibung der ukrainischen Regierung um Präsident Wolodimir Selenski erste Priorität erhalten. Gelingt es Frankreich, die Hauptstadt Kiew vor einem Zugriff zu schützen, kann ein rascher Sieg des Kremls verhindert werden.
Eine ähnlich hohe Bedeutung hat Odessa. Die Hafenstadt steht für die Vielfalt der Ukraine. Fällt sie an Russland, verliert die Ukraine ein kulturelles Zentrum, was die Idee der ukrainischen Nation erschüttern würde. Zudem ist Odessa in der gegenwärtigen Lage der wichtigste Zugang des Landes zum Schwarzen Meer. Kann die Hafenstadt nachhaltig gesichert werden, bleibt die Ukraine eine Seemacht. Bereits jetzt ist es der ukrainischen Armee gelungen, die russische Schwarzmeerflotte erheblich zu schwächen.
Ist Odessa sicher, kann Kiew den Export von Getreide erhöhen. Die Ukraine erhält damit mehr Gewicht unter Entwicklungs- und Schwellenländern, was für die Unterstützung einer gerechten Nachkriegsordnung von entscheidender Bedeutung sein könnte.
Risiken auch für den Alpenraum
Variante zwei, eine Schwergewichtszone am Dnipro-Knie, hätte vor allem militärischen Wert. Falls die russische Armee im Südosten einen energischen Vorstoss versuchte, wäre die Gegend nördlich von Saporischja eine operative Achillesferse für die Verteidigung der Ukraine. Die Stadt Dnipro ist eine eigentliche Drehscheibe in alle Himmelsrichtungen des Landes. Ein französischer Stolperdraht in diesem Raum bedeutete eine erhebliche Entlastung der ukrainischen Kampfverbände an der Kontaktlinie.
Eine eigentliche Vorstufe für einen Ukraine-Einsatz wäre die Unterstützung der Republik Moldau gegen den hybriden Krieg Russlands. Gegenwärtig spitzt sich die Lage im Gebiet der gagausischen Minderheit zu, die von Moskau instrumentalisiert wird, um die Autorität der Regierung in Chisinau auszuhöhlen. Bereits ein kleines Kontingent französischer Bodentruppen könnte die Lage stabilisieren.
Präsident Macron weiss aber, dass der offene Einsatz militärischer Mittel ausserhalb der Nato mit Risiken verbunden ist. Abgesehen von den nuklearen Drohgebärden Moskaus wären auch Probeangriffe auf Frankreich mit Kampfjets oder weitreichenden Waffen denkbar. Eine der verwundbarsten Achsen führt über den Wackelkandidaten Ungarn Richtung Alpen. Der sogenannte Tirol-Korridor ist in der Luft praktisch ungeschützt.
In der Logik der konventionellen Abschreckung würde der Einsatz von Bodentruppen den Preis einer weiteren Eskalation erhöhen, auch wenn Frankreich als Militärmacht nicht den solidesten Ruf geniesst. Der Kreml hat in der Vergangenheit Zeichen der Stärke besser verstanden als Verständnis und Kompromisse. Ein militärisches Engagement Frankreichs wäre damit wohl die letzte Möglichkeit Europas, eine Niederlage der Ukraine und einen grösseren Krieg zu verhindern.