Eine Serie von Gewaltakten junger Täter sorgt in Österreich für Empörung. Der Innenminister will nun gegen «bis an die Zähne bewaffnete Jugendliche» vorgehen. Zur Diskussion steht auch eine Senkung der Strafmündigkeit.
Von einer «blutigen Woche» berichtet der Boulevard, von einer «Peitschen-Bande», die Wien terrorisiere, und von «Polizisten am Limit». Aber auch die links positionierte Zeitung «Der Standard» schreibt in einem Leitartikel: «Wir haben ein Problem.» Anlass ist eine Reihe von Gewaltakten junger Täter in Österreichs Hauptstadt, die in den letzten Tagen und Wochen die Öffentlichkeit erschüttert haben.
Am Sonntag wurde vor der wohl bekanntesten Gelateria des Landes unweit des Hauptbahnhofs ein junger Mann niedergestochen, der Frauen zu Hilfe gekommen war, die von einer Gruppe Jugendlicher belästigt wurden. Er wurde schwer, aber nicht lebensgefährlich verletzt. Am Montag besuchte Innenminister Gerhard Karner den als neuralgisch bekannten Tatort in medienwirksamer Begleitung einer neu geschaffenen Polizeieinheit zur Bekämpfung von Jugendkriminalität. Doch nur Stunden später kam es in der gleichen Gegend zu einer neuerlichen Messerstecherei, bei der ein 18-jähriger Syrer einen 20-Jährigen schwer verletzte. Am Donnerstagabend ereigneten sich zwei weitere Auseinandersetzungen, bei denen Stichwaffen im Spiel waren.
Ausgerechnet die FPÖ lehnt ein Waffenverbot ab
Am schockierendsten ist indes der sexuelle Missbrauch eines damals erst 12-jährigen Mädchens, der sich im vergangenen Jahr über Wochen hingezogen haben soll. Wie erst kürzlich bekanntwurde, hatten sich insgesamt mindestens 17 Buben und Jugendliche an dem Mädchen vergangen – in Parks, WC-Anlagen, Garagen, aber auch in Wohnungen und einmal in einem Hotelzimmer. Bis auf einen sind alle mutmasslichen Täter selbst minderjährig, zwei sind noch keine 14 Jahre alt. Alle haben Migrationshintergrund, kommen aus prekären Verhältnissen, haben keine Ausbildungsstellen, und teilweise waren sie auch schon polizeilich bekannt.
Gegen einen Verdächtigen wird wegen Vergewaltigung ermittelt, in den anderen Fällen soll keine physische Gewalt verübt worden sein. Einige Beschuldigte filmten die Handlungen und erpressten das Opfer mit den Videos. Vermutlich aus Scham vertraute sich das Mädchen über Monate niemandem an, wie die Mutter gegenüber dem ORF erklärte.
Alle diese Taten ereigneten sich in Favoriten, dem bevölkerungsreichsten Bezirk der Stadt und einem traditionellen Schmelztiegel. Er gilt als «Hotspot», und die lokale Politik fordert schon lange eine stärkere Polizeipräsenz. Innenminister Karner versprach am Montag mehr Polizisten, «nicht nur in Favoriten, sondern in ganz Österreich». Es sollen auch Spezialkräfte zum Einsatz kommen und regelmässig Schwerpunktaktionen durchgeführt werden.
Zudem fordert Karner ein Waffenverbot im öffentlichen Raum, das auch Messer ab einer bestimmten Klingenlänge umfassen soll. Derzeit können die Sicherheitsbehörden bereits Waffenverbotszonen an bestimmten Orten einrichten. Landesweit gibt es drei solche Zonen, eine am Verkehrsknotenpunkt Praterstern in Wien und zwei rund um den Bahnhof Innsbruck. Karner spricht von guten Erfahrungen, die Polizei könne in diesen Gegenden besser und effizienter kontrollieren.
Der grüne Koalitionspartner seiner konservativen ÖVP steht dem Vorschlag offen gegenüber. Kritik kommt indes ausgerechnet von der rechtspopulistischen FPÖ, die sich sonst stets als Verfechterin von Recht und Ordnung gebärdet. Sie beklagt ein «Enteignungspaket für die rechtstreue heimische Bevölkerung», während migrantische Jugendliche ein solches Verbot ohnehin ignorieren würden.
Damit hat die Partei tatsächlich nicht unrecht: Minderjährigen ist das Tragen von Waffen und damit auch von entsprechenden Messern bereits jetzt verboten. Wenn Karner also wie am Montag sagt, «bis an die Zähne bewaffnete Jugendliche» und Jugendbanden entwaffnen zu wollen, wäre das auch ohne Gesetzesänderung möglich.
Mehr Anzeigen – aber weniger Verurteilungen
Der Fokus auf Minderjährige ist aber nicht nur wegen der jüngsten Fälle nachvollziehbar. Laut den Statistiken des Innenministeriums ist die Zahl der jugendlichen Tatverdächtigen in den vergangenen zehn Jahren stark gestiegen. Die Anzeigen gegen 10- bis 14-Jährige haben sich seit 2013 sogar fast verdoppelt auf gut 9500.
Allerdings wäre es falsch, daraus auf eine drastische Zunahme der Jugendkriminalität zu schliessen, wie das Ministerium selbst betont. Zum einen hätten Sensibilisierungsmassnahmen in den letzten Jahren zu mehr Anzeigen geführt, etwa durch Lehrkräfte, heisst es auf Anfrage. Es habe sich somit die Dunkelziffer verringert. Zum anderen gebe es viel mehr Delikte im digitalen Bereich, beispielsweise das Teilen von Nacktaufnahmen oder Drohungen über soziale Netzwerke. Handlungen auf diesem Weg machen es zudem einfacher, Täter zu ermitteln – was sich wiederum in einer höheren Zahl von Anzeigen niederschlägt.
Die Zahl der Verurteilungen Minderjähriger im gleichen Zeitraum ist dagegen um über einen Drittel zurückgegangen. Auch das lässt sich erklären: Eine Änderung des Jugendstrafrechts ermöglicht seit 2015 auch für Minderjährige die sogenannte Diversion, eine aussergerichtliche Form der Wiedergutmachung ohne Verurteilung.
Zwei verstörende Phänomene sind indes tatsächlich neu für Österreich: delinquierende Jugendbanden sowie zuweilen sehr junge Straftäter. Insbesondere der Missbrauchsfall hat Bundeskanzler Karl Nehammer dazu veranlasst, eine Senkung der Strafmündigkeit zu fordern, die bei 14 Jahren liegt. Jüngere Kinder können sich derzeit nicht strafbar machen. Mit Verweis etwa auf die Schweiz, wo die Grenze bei 10 Jahren liegt, lässt der Regierungschef nun einen Vorschlag zur Anpassung zumindest für schwere Delikte erarbeiten.
Experten wie Jugendrichter oder Sozialarbeiter kritisieren das Vorhaben indes praktisch einhellig. Der Soziologe und Integrationsexperte Kenan Güngör, der auch die Regierung berät, erklärte etwa, Kinder müssten durchaus auch Konsequenzen bei Fehlverhalten spüren. Diese sollten aber pädagogisch sein und die Beschuldigten mit ihrer Tat konfrontieren, nicht mit der Härte des Gesetzes.
Delinquierende Kinder entstammten meist aus sozial prekären und teilweise von Gewalt geprägten Verhältnissen. Die Polizei allein sei keine Lösung, die Jugendarbeit allein allerdings auch nicht. Wichtig sei eine Vernetzung dieser Stellen. Auch Innenminister Karner sagte, das Gefängnis sei in solchen Fällen «wahrscheinlich nicht der sinnvollste Weg». Wer ein Delikt begehe, müsse aber auch mit Konsequenzen und Sanktionen rechnen.