An einer Grosskundgebung hat der serbische Präsident das Ende der «farbigen Revolution» verkündet. Die Studenten kümmert das nicht.
Wie soll das Regime von Präsident Aleksandar Vucic auf die Protestbewegung antworten, die Serbien seit Monaten bewegt? Mit der Gründung einer staatsnahen «Volksbewegung» hat Vucic am Wochenende versucht, die Initiative wieder an sich zu reissen.
Er will so die Studenten- und Jugendbewegung schwächen, die seit Monaten kreuz und quer durch Serbien marschiert und auf ihren Kundgebungen Rechenschaft von den staatlichen Behörden verlangt. Es geht um die Verantwortung für den durch Schlamperei und Korruption verursachten Einsturz eines Bahnhofdachs, der in Novi Sad 16 Menschen das Leben kostete.
Darüber hinaus wollen die Studenten die von Vucics Fortschrittspartei gekaperten staatlichen Institutionen befreien: Die Gewaltenteilung soll wieder funktionieren und ein neuer Bürgersinn das Verhältnis von Gesellschaft und Staat verändern.
Eine schlechte Kopie der Studentenproteste
Lange liess das Regime den Dingen ihren Lauf. Es rechnete damit, dass der Bewegung der Schnauf ausgehen würde. Als die Studentinnen und Studenten nicht lockerliessen und der Kreis ihrer Unterstützer bis in die Provinzstädte wuchs, erhöhte die Regierung den Druck auf Aktivisten und Journalisten. Es kam zu Verhaftungen, Hausdurchsuchungen und Anklagen.
Aber Serbien ist nicht Weissrussland. Einzelne zahlen zwar einen hohen Preis für ihr Engagement, doch Polizei und Justiz sind weder in der Lage noch willens, die breite Bewegung zu unterdrücken. Auch mediale Rufschädigung und geheimdienstliche Erpressungsversuche wirken nur bedingt: Der Protest ist dezentral organisiert. Es gibt keine sichtbaren Anführer.
An Vucics Kundgebung am Samstag nahmen laut Schätzungen etwa 55 000 Personen teil. Das ist angesichts des propagandistischen Aufwands, den Partei und Regierung dafür betrieben, nicht viel. Die Studenten hatten Mitte März in Belgrad ein Mehrfaches an Bürgerinnen und Bürgern mobilisiert.
Seit Freitag waren Tausende, unter ihnen zahlreiche Rentner, in Bussen aus ganz Serbien nach Belgrad gebracht worden. Laut Medienberichten hatte die Partei den Gemeinden und Staatsbetrieben Quoten vorgeschrieben, die von den Funktionären erfüllt werden mussten.
Auf der Rednertribüne feierte Vucic am Abend die Geburt einer neuen «Bewegung für das Volk und den Staat». Die Schaffung einer politischen Bewegung von oben, die sich als Volksbewegung ausgibt, ist ja an sich schon seltsam. Das bestätigte dann auch die weitere Inszenierung der Kundgebung: Sie war eine schlechte Kopie der Studentenproteste.
An Ständen wurden gratis Essen und Getränke ausgegeben. Das imitierte die Grosszügigkeit, mit der die Bevölkerung den marschierenden Studentinnen und Studenten jeweils Verpflegung und Unterkunft anbietet. Die Veranstalter in Belgrad liessen Traktoren auffahren. Auch das erinnert an die Kundgebungen der Studierenden, mit denen sich oft auch Bauern solidarisieren.
Hinter Vucics Rednerbühne prangte die Parole «Wir geben Serbien nicht her!». Das ist fast das gleiche Motto wie jenes, mit dem eine Bürgerbewegung den Abbau von Lithium in Westserbien bekämpft. Und so, wie die Studenten seit November jeweils vier Forderungen vortragen, darunter die Offenlegung der Baudokumentation der Bahnhofsrenovation in Novi Sad, so hat auch der Präsident seine Forderungen. Nur sind es deren fünf.
Sie zielen darauf ab, die angeblich bedrohten Institutionen des Landes vor dem Protest zu schützen und den geregelten Universitätsbetrieb wiederherzustellen. Bemerkenswert ist Vucics Kritik am Staatssender RTS, der ihm zu wenig gouvernemental berichtet.
In seiner Rede bezeichnete er den Studentenprotest als Versuch, eine «farbige Revolution» anzuzetteln. Fremde Mächte könnten es nicht ertragen, dass Serbien ein freies und unabhängiges Land sei. Unterstützung erhielt Vucic von Milorad Dodik, dem Präsidenten der serbischen Entität in Bosnien und Herzegowina. Er sagte, nur Vucic sei in der Lage, Einigkeit unter den Serben auf dem ganzen Balkan zu stiften.
Orban gratuliert Vucic von Patriot zu Patriot
Ministerpräsident Viktor Orban gratulierte mit einer Videobotschaft. Vucic widerstehe jenen, die den Serben vorschreiben wollten, wie sie zu leben hätten. Damit gemeint ist die EU und eine liberale Internationale, gegen die die Nationen Europas aufstehen müssten. «Die serbischen Patrioten», rief Orban, «können auf die ungarischen Patrioten zählen!»
Ein anderes Verständnis von Patriotismus war gleichzeitig in Novi Pazar, der mehrheitlich bosniakisch (muslimisch) besiedelten Stadt im Westen des Landes, zu beobachten. Dort war am Samstag ein Protestzug der Studenten von den Kommilitonen der örtlichen Universität empfangen worden.
Seit den Kriegen der 1990er Jahre ist das Verhältnis zwischen der bosniakischen Bevölkerung und dem Rest des Landes gespannt. Jetzt verbrüderten sich muslimische Studentinnen und Studenten mit ihren Kommilitonen aus Belgrad unter der serbischen Flagge. Das ist tatsächlich Ausdruck eines neuen Bürgersinns. Er entspringt nicht der Ethnie oder der Religion, sondern einem geteilten Verantwortungsgefühl gegenüber Staat und Gesellschaft.
Dafür ist auch bezeichnend, dass die Demonstranten in Novi Pazar die öffentlichen Plätze sauber zurückliessen. In der Belgrader Innenstadt türmten sich nach dem Abzug der «Volksbewegung» die Abfallberge.