Mit der Eröffnung einer neuen Front bringt Russland die Verteidiger in eine Zwickmühle. Erstmals in Aktion tritt auch die kürzlich geschaffene Nordgruppe der russischen Armee.
Über das Wochenende ist es den ukrainischen Streitkräften nicht gelungen, den bedrohlichen russischen Vormarsch nördlich der Grossstadt Charkiw zu stoppen. Am Freitag hatten dort russische Einheiten die Staatsgrenze überschritten und damit eine neue Front eröffnet. Trotz heftigem Widerstand eroberten die Russen bisher etwa zehn kleine Dörfer und verdrängten die Ukrainer entlang der Grenze aus einem knapp 200 Quadratkilometer grossen Streifen. Der ukrainische Oberbefehlshaber Olexander Sirski sprach am Sonntag von einer deutlichen Verschärfung der Lage.
Die Angreifer haben das Terrain offensichtlich genau studiert und rücken entlang der beiden Hauptgewässer in der Gegend vor, des Trawjanski-Stausees und des Flusses Donez. Das wichtigste Zwischenziel ist offenbar die Kleinstadt Wowtschansk, wo vor dem Krieg 19 000 Einwohner gelebt haben. Der Ort, ein logistischer Knotenpunkt der ukrainischen Armee, steht unter heftigem Beschuss durch Russlands Flugwaffe und Artillerie. Die Lokalbehörden haben die verbliebenen Zivilisten zur Evakuation aufgefordert. Insgesamt seien bisher fast 6000 Personen aus der Kampfregion in Sicherheit gebracht worden, hiess es am Sonntag von offizieller Seite.
Die russischen Bodentruppen greifen Wowtschansk von drei Seiten an und werden wohl eine Umzingelung versuchen. Die weitergehenden Ziele der Operation bleiben damit allerdings noch immer im Dunkeln. Immerhin lässt sich aus dem russischen Vorgehen ein wichtiger Rückschluss ziehen: Um eine Grossoffensive zur Einnahme von Charkiw handelt es sich allem Anschein nach nicht. Weder die eingesetzte Truppenstärke noch die gewählte Stossrichtung würden dazu passen.
Wowtschansk liegt östlich des Donez und damit nicht auf derselben Seite des Flusses wie die Millionenstadt Charkiw. Der Donez, welcher der Region Donbass den Namen gegeben hat, erwies sich im bisherigen Kriegsverlauf regelmässig als grosses Hindernis. Hätte der Kreml es auf einen Direktangriff auf Charkiw abgesehen, würde er daher eine Hauptstossrichtung westlich des Flusses wählen. Zudem haben die Russen mit einem Luftangriff bereits eine wichtige Brücke in der Gegend zerstört. Das würde sie später bei einer grossangelegten Offensive behindern, doch Priorität hat für sie, den Ukrainern nun den Nachschub über jenen Flussübergang zu erschweren.
Zu wenig Truppen für Eroberung von Charkiw
Experten sind sich einig, dass Russland derzeit nicht über die nötigen Truppen verfügt, um Charkiw anzugreifen und einzunehmen. Erforderlich wären dafür weit mehr als 100 000 Mann. Bisher hat Moskau in der gegenüberliegenden Grenzprovinz Belgorod laut ukrainischen Geheimdienstangaben nur 35 000 Soldaten zusammengezogen. Davon kommt erst ein Bruchteil zum Einsatz. Der gut informierte ukrainische Militärexperte und Reserveoffizier Kostjantin Maschowez schätzt, dass Russland mit etwa sieben mechanisierten Bataillonen vorrückt, also nur mit etwa 4000 Mann.
Die russische Streitmacht nördlich von Charkiw dürfte zwar in nächster Zeit anwachsen, zumal jenseits der Grenze auffällige Truppenbewegungen registriert wurden. Aber um eine auf Schlagkraft und Geschwindigkeit ausgerichtete Operation handelt es sich nicht. Videos aus dem Kampfgebiet deuten darauf hin, dass die Russen oft nur mit Infanterie und in kleinen Gruppen unterwegs sind. Der bisherige Vormarsch von weniger als 5 Kilometern Tiefe ist denn auch nicht gewaltig.
Drohende Verzettelung der Kräfte
Auch wenn die Einnahme der zweitgrössten Stadt der Ukraine zweifellos ein längerfristiges Ziel des Kremls darstellt, macht Russland auch mit der jetzigen begrenzten Aktion einen wichtigen Schachzug. Die Einrichtung einer Pufferzone entlang der Grenze hätte erstens zur Folge, dass die nur 30 Kilometer von der Grenze entfernte russische Stadt Belgorod besser vor ukrainischen Angriffen geschützt wäre. Zugleich geriete Charkiw in die Reichweite der russischen Raketenartillerie.
Zweitens könnte ein erfolgreicher Vorstoss östlich von Charkiw die russischen Operationen an der Front bei Kupjansk unterstützen, wo die Angreifer bis anhin kaum vorankommen. Drittens – und dies ist für die Ukrainer unmittelbar am heikelsten – zwingt der neue Angriff die Führung in Kiew, Truppen nach Norden zu verschieben. Entsprechend droht eine Schwächung an den ohnehin wackligen Fronten weiter östlich im Donbass.
Dass Moskau mehr als nur ein kurzfristiges Ablenkungsmanöver vorhat, zeigt allein schon eine Reorganisation der russischen Militärstruktur. Die Charkiw-Operation obliegt der vor einem Monat neu geschaffenen Streitkräftegruppe «Nord». Zu den bisher fünf in der Ukraine eingesetzten Streitkräftegruppen Russlands ist damit eine sechste hinzugekommen, mit Fokus auf die Nordostukraine. Das verweist auf eine veränderte Prioritätensetzung in Moskau und Chancen, die sich der Kreml angesichts der teilweisen Erschöpfung der ukrainischen Truppen ausrechnet.
Comeback eines Altbekannten
Die Gruppe «Nord» untersteht dem Kommando von Generaloberst Alexander Lapin – einem überraschend aus der zweiten Reihe wieder in den Vordergrund gerückten Militärführer. Lapin hatte in den ersten Kriegsmonaten eine führende Rolle gespielt und Präsident Wladimir Putins Gunst genossen. Nach vielen Misserfolgen und einer Rufmordkampagne ultranationalistischer Hardliner verlor der General im Herbst 2022 jedoch sein Kommando und wurde mit einem Stabsposten vertröstet.
Seine guten Beziehungen zur politischen und militärischen Führung weiss Lapin aber noch immer zu nutzen. Im Frühjahr ergatterte er sich das Kommando des neu geschaffenen Leningrader Militärkreises, und nun steht er als Chef der Streitkräftegruppe «Nord» endgültig wieder im Rampenlicht.