Die russische Offensive gewinnt an Momentum. Im November gelang es Putins Truppen, so weit vorzudringen wie seit zwei Jahren nicht mehr – fast 600 Quadratkilometer Land wurden erobert, so gross wie der Kanton Baselland. Bereits die beiden Monate zuvor zählten aus russischer Sicht zu den erfolgreichsten der vergangenen zwei Jahre.
Die Ukraine konnte in letzter Zeit kaum noch Geländegewinne verzeichnen. Zwar gelang ukrainischen Truppen im August ein überraschender Vorstoss über die Landesgrenze, bei dem Teile der russischen Oblast Kursk besetzt wurden. Doch der russische Gegenangriff drängt die Ukrainer Woche für Woche aus mühsam erkämpften Gebieten zurück. In Kursk wird zudem eine grössere russische Gegenoffensive erwartet, bei der laut Berichten auch nordkoreanische Soldaten zum Einsatz kommen sollen.
Der Donbass bleibt im Fokus der russischen Angriffe
Dennoch gibt es keine Anzeichen dafür, dass russische Truppen die Ukraine demnächst vollständig einnehmen. Dafür sind ihre Gebietsgewinne zu gering. Dem Zwischenziel – den gesamten Donbass mit seinen Oblasten Luhansk und Donezk in Putins Reich einzugliedern – ist Russland in den letzten Monaten jedoch ein Stück näher gekommen. Die Oblast Luhansk ist faktisch erobert. Um die Oblast Donezk wird heftig gekämpft.
Derzeit besetzen russische Truppen rund 17 000 Quadratkilometer oder 66 Prozent der Oblast Donezk. Dies entspricht der Fläche der drei grössten Kantone Graubünden, Bern und Wallis zusammen. Rund 8 Prozent davon wurden in diesem Jahr erobert. Die zentrale Frage ist nun, ob Russland dieses Tempo aufrechterhalten kann. Denn der Einsatz von Personal und Material ist enorm.
Ausserdem häufen sich die Gerüchte, dass Russlands Rekrutierung ins Stocken geraten ist und die Verluste derzeit nicht ausgeglichen werden können. Im September verlor Russland gemäss ukrainischem Generalstab rund 39 000 Soldaten.
Der britische Verteidigungsminister John Healey schätzt für den Oktober weitere 41 980 Tote und Verletzte. Russland verliert demnach zwischen 1200 und 1350 Soldaten pro Tag. Überprüfen lassen sich diese Zahlen nicht, sie dürften wohl auch überschätzt sein.
Im Kontrast dazu schätzt die amerikanische Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW), dass Russland im gleichen Zeitraum nur zwischen 60 000 und 70 000 neue Soldaten rekrutieren konnte.
Das ISW erwartet deshalb eine vorübergehende Kampfpause. «Es ist unwahrscheinlich, dass die russischen Streitkräfte ausreichend kampffähig sind, um eine grössere Offensive zu unternehmen, ohne zumindest eine vorübergehende Ruhe- und Wiederaufbaupause einzulegen» schreibt das Institut in einem Bericht.
Auch die Ukraine tut sich schwer mit der Rekrutierung
Ob es wirklich zu dieser Kampfpause kommt, sei dahingestellt. Russland konnte seine Reserven entgegen allen Erwartungen immer wieder auffüllen.
Auf der anderen Seite bekundet auch die Ukraine seit Monaten Mühe, genügend Soldaten zu rekrutieren. Das Land, das den eigenen Bedarf an Munition und Panzerfahrzeugen nicht selbst decken kann, bleibt vom Westen abhängig. Diesem fehlt es zurzeit aber an einer langfristigen Strategie.