Nordkoreas Machthaber gibt das Ziel einer friedlichen Annäherung an den Süden auf. Das bedeutet nicht, dass ein Krieg bevorsteht. Doch muss sich Seoul auf eine Zunahme gefährlicher Provokationen einstellen.
Eine hochgerüstete Atommacht mit mehr als einer Million Soldaten unter Waffen und eine Bevölkerung, die ab dem Kindergartenalter auf einen Krieg mit Südkorea und Amerika vorbereitet wird. Und dennoch hielt der Einparteistaat Nordkorea jahrzehntelang an der Vision einer versöhnlichen Wiedervereinigung mit dem Bruderstaat im Süden fest.
Jetzt ist Schluss mit solchen Nettigkeiten. Das Ziel einer Zusammenführung der getrennten Landesteile soll aus der Verfassung gestrichen werden. Stattdessen stuft der autoritäre Norden den demokratischen Süden neuerdings als «unverrückbaren Hauptfeind» ein und erhöht die Kriegsbereitschaft.
Ein Bruch mit der Ideologie
Der dritte Diktator aus der Kim-Dynastie bricht mit einer Politik, die auf den Staatsgründer Kim Il Sung zurückgeht und von dessen Sohn Kim Jong Il weitergeführt wurde. Demnach sind die Vereinigten Staaten die genuinen Übeltäter auf der koreanischen Halbinsel. Sie haben Südkorea nach Lesart Pjongjangs unterjocht. Die Regierungen in Seoul behandelte das kommunistische Regime als bemitleidenswerte Marionetten Washingtons. Doch jetzt geht der Titel «Hauptfeind» von Amerika auf Südkorea über.
Muss es die Welt kümmern, wenn Kim die Hierarchie seiner Feinde umstellt? Eigentlich nicht. Und doch ist der terminologische Etikettenwechsel relevant. Er beschleunigt die Eskalationsspirale nochmals, die sich schon seit 2022 wieder schneller dreht.
Damals passte der jüngste Kim die nordkoreanische Nukleardoktrin an: Sie erlaubt präventive Atomschläge – auch gegen Südkorea. Ende vergangenen Jahres kippte Pjongjang ein Militärabkommen, das half, die Spannungen an der schwer bewachten Demarkationslinie am 38. Breitengrad abzubauen. Auf dem diplomatischen Parkett herrscht schon länger Stillstand. Ein Begegnungszentrum an der Grenze hatten die Nordkoreaner kurzerhand in die Luft gesprengt.
Mit seiner Deklaration passt sich Kim Jong Un der Realität an. Die Vorstellung einer einvernehmlichen Wiedervereinigung gehört ins Märchenland. Auch in Seoul klammerten sich linke Politiker zu lange an diese Illusion.
Hinwendung zu Russland
Washington und die asiatischen Alliierten haben die rhetorischen Salven aus dem Norden oft mit Gleichmut hingenommen. Langjährige «Kimologen» deuteten sie als Hilferuf eines Regimes, das eigentlich über Nahrungsmittellieferungen und Sicherheitsgarantien verhandeln will. Je unverfrorener Nordkorea auftrete, desto mehr wolle es den Preis für Wohlverhalten hochtreiben, vermuteten sie.
Diese Interpretation war bis zur gescheiterten Gipfeldiplomatie Donald Trumps nicht völlig abwegig. Doch hat sich Kim seit der ebenso bizarren wie ergebnislosen Kameraderie mit Trump wieder alten Freunden zugewendet. Der wichtigste heisst Russland, neben China die traditionelle Schutzmacht der Kims.
Wladimir Putin dient sich Nordkoreas zunehmend selbstbewusstem Herrscher mit Nahrungsmittelhilfe und militärischer Technologie an. Seinen Gesinnungsgenossen versorgt Kim im Gegenzug mit Waffen für den Krieg in der Ukraine.
Kim Jong Uns Zeitenwende bedeutet nicht, dass ein Krieg auf der koreanischen Halbinsel bevorsteht. Nordkoreas Führung handelt durchaus rational und stellt den Machterhalt über alles. Eine militärische Auseinandersetzung mit Südkorea und dessen Schutzmacht Amerika würde das Regime kaum überleben.
Dennoch ist höchst unwahrscheinlich, dass Kim die Teilung des Landes in der heutigen Form akzeptieren wird. In seiner Parlamentsrede vom Montag erklärte er die nach dem Koreakrieg (1950 bis 1953) gezogene Seegrenze für illegal. Seoul muss sich auf eine neue Serie von militärischen Nadelstichen einstellen.
Südkoreas Generäle stehen vor der schwierigen Aufgabe, ihr Abschreckungsdispositiv zu stärken, militärische Entschlossenheit zu zeigen, aber trotz Nordkoreas Provokationen nicht den Kopf zu verlieren. Ein heikler Balanceakt.