Ein deutsches Gericht hat jüngst erstmals die Natur als Trägerin von Grundrechten anerkannt. Der Staatsrechtler Christoph Degenhart ist von dem Urteil entsetzt. Er warnt vor einer Gesinnungsjudikatur.
Herr Degenhart, wenn es um Klimaaktivismus geht, denkt man an Vereinigungen wie Fridays for Future. Sie dachten jüngst an ein Gericht in Thüringen. Was war da los?
Das Landgericht Erfurt hatte über eine Schadenersatzklage im Zusammenhang mit dem VW-Dieselskandal zu befinden. Neu war, dass hier erstmals ein deutsches Gericht die Natur als «ökologische Person» und Trägerin von Grundrechten anerkannt hat. Dazu muss man wissen, dass der zuständige Richter sich bereits in seiner Kommentierung der Grundrechtecharta, die er häufig und als einzige zitiert, in dieser Richtung geäussert hatte. Seine eigene Kommentierung ist also in das Richterrecht eingeflossen. Es ist aber nicht Aufgabe eines Richters, seine höchstpersönliche Rechtsauffassung als die einzig richtige Richterrecht werden zu lassen.
Sie haben Ihren Ärger über das Urteil in einer Kolumne für die «Neue Juristische Wochenschrift» ausgedrückt. Für Nichtjuristen: Was ist Richterrecht?
Richter haben die Aufgabe, das Recht anzuwenden, aber auch geltendes Recht fortzuentwickeln, etwa indem sie Begriffe neu auslegen. Die Grenze ist dabei der Wortlaut des Gesetzes. Darüber dürfen sich Richter nicht hinwegsetzen. Und in diesem Punkt sehe ich sehr bedenkliche Tendenzen in der Erfurter Entscheidung. Der Richter, Martin Borowsky, hat sich über den Wortlaut und die Systematik der geltenden Bestimmungen kühn hinweggesetzt. Im Übrigen stösst Richterrecht auch an die Grenzen der Gewaltenteilung. Man darf als Richter nicht Entscheidungen vorwegnehmen, die nach grundgesetzlicher Gewaltenteilung dem Gesetzgeber vorbehalten sind.
Und das hat Richter Borowsky getan?
Ja. Das deutsche Recht kennt keine ökologischen Personen, und dieser Richter ignoriert das einfach. Das ist Gesinnungsjudikatur.
Es gibt allerdings Länder, in denen die Natur schon heute eigene Rechte hat, vor allem im sogenannten globalen Süden. Was wissen Sie über die dortige Rechtsprechung?
Ich kenne die Rechtsprechung von Kolumbien oder Ecuador nicht, und ich würde mir nicht anmassen, sie zu analysieren. Herr Borowsky bezieht sich massgeblich auf Entscheidungen des globalen Südens oder, wie er schreibt, «Global South». Der Mann ist Kosmopolit. Leider sind seine Hinweise sehr vage. Wenn Richter sich in Urteilsgründen auf Entscheidungen anderer Gerichte beziehen, dann ist es eigentlich üblich, dass sie diese konkret benennen, mit Aktenzeichen und Fundstellen, damit es nachprüfbar ist. Im Erfurter Urteil findet sich nichts dergleichen. Das sind schon schwerwiegende methodische Schwächen.
Wer soll die Rechte einer ökologischen Person eigentlich vor Gericht geltend machen? Der Thüringer Wald oder der Rhein können das ja nicht selbst tun.
Genau das ist das Problem: Was soll eine ökologische Person sein, und wer soll sie vor Gericht vertreten? Mythische Wald- oder Flussgötter? Herr Borowsky argumentiert, die Natur bedürfe keiner Vertretung, weil ihre Eigenrechte schon von Amts wegen zu berücksichtigen seien. Das Klagerecht könne man problemlos von Umweltverbänden oder speziellen Gremien wahrnehmen lassen. Was ich ebenfalls höchst problematisch finde.
Warum?
Vor kurzem erst hat das Bundesverwaltungsgericht nach einer Klage der Deutschen Umwelthilfe entschieden, die Stadt München müsse ein Dieselfahrverbot erlassen. Verbände wie die Deutsche Umwelthilfe klagen unter Berufung auf ihre Grundrechte darauf, dass der Staat in die Grundrechte anderer eingreife. Sie klagen also auf den Erlass von Eingriffsmassnahmen, und das verkehrt die Bedeutung der Grundrechte. Grundrechte bezwecken in erster Linie den Schutz des Bürgers vor Eingriffen – und nicht den Anspruch auf Eingriffe gegen den Bürger.
Manche Menschen sagen: lieber eine Klima-Diktatur als eine kaputte Natur und ein lebensfeindliches Klima.
Eine solche Aussage kann nur treffen, wer stets in einer freiheitlichen Demokratie gelebt hat und ihre Errungenschaften als selbstverständlich betrachtet – was sie nicht sind.
Der Richter aus Erfurt schreibt in seinem Urteil auch, dass es in Südamerika bereits den Grundsatz «in dubio pro natura» gebe, im Zweifel für die Natur. Könnte es nicht sein, dass Länder, in denen die Menschen die Folgen des Klimawandels schon sehr viel deutlicher spüren als in Mitteleuropa, juristisch einfach weiter sind?
Wie gesagt: Ich kenne die dortigen Rechtssysteme nicht, und ich vermag nicht einzuschätzen, welche Möglichkeiten diese Rechtsordnungen bieten, um Umweltschäden und den Klimawandel rechtlich einzuhegen. Ich weiss nicht, auf Grundlage welcher rechtlichen und faktischen Rahmenbedingungen die entsprechenden Urteile ergangen sind. Und ich weiss nicht, wie dort das Verhältnis von Richterrecht und Gesetzesrecht gesehen wird. All dies müsste näher dargelegt werden, und all dies legt der Richter aus Erfurt nicht dar. Stattdessen ist der Duktus des Urteils sehr pathetisch.
Der Begriff «Klimakatastrophe» fällt auch, ohne Anführungszeichen. Eine solche Ausdrucksweise erwartet man von Aktivisten. War das eine Ausnahme? Oder formulieren Richter heute so?
Wenn Sie sich den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 2021 zum Klimaschutzgesetz der Bundesregierung anschauen, werden Sie feststellen, dass das höchste deutsche Gericht die Auswirkungen des Klimawandels damals ebenfalls schon sehr apokalyptisch beschrieben hat (das Bundesverfassungsgericht hat das Gesetz über die nationalen Klimaschutzziele für verfassungswidrig erklärt, weil Regeln für die Zeit nach 2030 fehlten; dadurch beschneide die Regierung die Freiheit künftiger Generationen, so Karlsruhe, Anm. d. Red.). Der Duktus dieser Entscheidung dürfte die Gerichte ermutigt haben, sich ebenfalls einer drastischen Ausdrucksweise zu bedienen.
Sind Richter heute stärker politisiert als früher?
Nun, Richter sind auch, um eine altertümliche Formulierung zu benutzen, Kinder ihrer Zeit. Sie bleiben von Zeitströmungen und von der allgemeinen Klimadiskussion nicht unbeeindruckt. Und wenn der jeweilige Berichterstatter ein Anliegen verfolgt, kommt dies auch im Urteil zum Ausdruck. Wobei sich ein einzelner Berichterstatter bei einem Kollegialgericht nie in dem Masse aus dem Fenster lehnen kann, wie es der Richter des Landgerichts Erfurt getan hat.
Ein anderes Urteil, das jüngst für Furore gesorgt hat, war der Erfolg der Schweizer «Klimaseniorinnen» beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Die Richter urteilten, dass die Schweiz die Menschenrechte der Seniorinnen verletzt habe, weil das Land nicht genug gegen die Klimaerwärmung unternommen habe. Ihr Urteil dazu?
Diese Entscheidung hat mich in der Tat überrascht. Zum einen, weil ich nicht den Eindruck habe, dass die Schweiz ein grosser Klimasünder ist; auf der Autobahn gilt dort immerhin ein Tempolimit von 120. Zum anderen ist ein Verbandsklagerecht in der Europäischen Menschenrechtskonvention eigentlich nicht vorgesehen. Das Gericht hat den Seniorinnen die Opfereigenschaft aber nicht als Individuen, sondern über ihren Verband zugesprochen – und damit ein Verbandsklagerecht geschaffen.
Was bedeutet das?
An sich muss, wer gegen eine Rechtsverletzung klagen will, darlegen, dass er selbst davon betroffen ist oder, wie beim EGMR, Opfer der Rechtsverletzung ist. Beim Verbandsklagerecht wird nun eine Organisation ermächtigt, regelmässig durch ein Gesetz, gegen eine Rechtsverletzung zu klagen, die eine bestimmte Personengruppe betrifft. Das können zum Beispiel Verbraucher oder alte Menschen sein. Wobei schon die Klage der Seniorinnen massgeblich geführt wurde von einem der grössten Umweltverbände der Welt: Greenpeace. Als ich vor Gericht einmal von Greenpeace als «Umweltkonzern» gesprochen habe, waren die schwer gekränkt. Aber das sind sie. Genau wie die Deutsche Umwelthilfe. Da sind natürlich auch wirtschaftliche Interessen im Spiel.
Die Zürcher Völkerrechtlerin Helen Keller, die selbst in Strassburg Richterin war, nannte die Entscheidung zugunsten der Klimaseniorinnen «bahnbrechend». Die entsprechenden Verpflichtungen könnten nun von Umweltorganisationen in ganz Europa durchgesetzt werden. Stimmt das?
Ich bin immer vorsichtig, wenn Entscheidungen als bahnbrechend gewürdigt werden. Wenn man das Urteil genau liest, ist es durchaus differenziert und keineswegs ein Freifahrtschein für andere Klima-Klagen beim EGMR. Die entscheidende Neuerung war, wie gesagt, die Anerkennung eines Verbandsklagerechts, während die weiteren materiellen Ableitungen dieses Rechts auf Klimaschutz aus den Grundrechten der Konvention sich durchaus noch im Rahmen methodisch korrekter Rechtsfindung bewegen.
Apropos Verbandsklagen: Die Antidiskriminierungsbeauftragte der Bundesregierung, Ferda Ataman, plant gerade ein entsprechendes Klagerecht für Antidiskriminierungsverbände. Das ist ein anderes Thema. Aber was halten Sie davon?
Nichts. Und das Pikante ist, dass Frau Ataman selbst gewissen diskriminierenden Narrativen anhängt.
Meinen Sie die «Kartoffeln»? So nannte Frau Ataman früher «autochthone» Deutsche.
Man kennt das ja. Das machen schon Kinder – vermutlich weil sie es von ihren Eltern hören –, dass sie Angehörige anderer Nationen mit deren Essgewohnheiten, nicht unbedingt bösartig, verspotten. Eine Antidiskriminierungsbeauftragte sollte nicht in solche Sprachmuster verfallen. Davon abgesehen würde Frau Ataman mit ihrem Verbandsklagerecht das Meinungsklima in Deutschland erheblich beeinträchtigen und stören. Wir haben bereits Meldestellen für diskriminierende, rassistische und ähnliche Äusserungen. Und die Begriffe sind da sehr weit gefasst. Ein Klagerecht wäre für diese Verbände ein weiteres und ganz erhebliches Instrument, um ihre politische Agenda durchzusetzen. Dann wäre die Frage «Was darf man in diesem Land eigentlich noch sagen?» in der Tat berechtigt. Ich gebe Ihnen noch ein aktuelles Beispiel: Ich habe gerade zufällig gelesen, dass sich mehrere Chöre weigern, das Wort «Oberindianer» aus dem Lied «Sonderzug nach Pankow» von Udo Lindenberg bei Auftritten im Berliner Humboldt-Forum mitzusingen.
Ja. Der «Oberindianer» im Lied ist allerdings kein amerikanischer Ureinwohner, sondern Erich Honecker.
So ist es. Und Udo Lindenberg ist nicht als Mensch bekannt, dem man rassistische Tendenzen unterstellen würde. An solch harmlosen Fällen, und davon gibt es inzwischen viele, sieht man, wie schnell heute eine diskriminierende Wirkung unterstellt wird. Vor diesem Hintergrund ist das Verbandsklagerecht, das Frau Ataman plant, auch verfassungsrechtlich höchst bedenklich. Zumal die Verbände, die Klagerecht bekommen sollen, in vielen Fällen bereits staatlich alimentiert werden und mithilfe des sogenannten Demokratiefördergesetzes dauerhaft alimentiert werden sollen. Das Ergebnis wäre ein gewaltiger und demokratisch nicht legitimierter staatlicher Einfluss auf die Freiheit der öffentlichen Kommunikation, der so vom Grundgesetz nicht getragen wäre.
Kritiker warnen vor Zensur. Dabei bedeutet Zensur, dass Inhalte vom Staat vor ihrer Veröffentlichung unterbunden werden – und nicht danach, wie bei den Meldestellen und ihren «vertrauenswürdigen Hinweisgebern». Wie würden Sie die gegenwärtigen Zustände in Deutschland charakterisieren: zensurähnlich?
Derzeit wohl noch nicht, aber ich sehe in der Tat in Deutschland beunruhigende und stärker werdende Entwicklungen in diese Richtung, also zensurähnliche Bestrebungen, zumal der Zensurbegriff im Internet ja ambivalent ist. Wenn eine staatliche Stelle sagt, diese oder jene Äusserung dürfe im Netz nicht mehr verbreitet werden, dann stoppt sie zwar eine bereits erfolgte Veröffentlichung. Aber sie greift zugleich, auch wenn sie dafür private Organisationen einschaltet, für die Zukunft in die Äusserungsfreiheit ein.