Vom einem Gefängnis aus hat sich die kriminelle Organisation innert weniger Jahre zu einer der gefährlichsten Verbrecherorganisationen Lateinamerikas entwickelt. Nun sorgt sie bis in die USA für Aufsehen. Die Trump-Regierung schafft mutmassliche Bandenmitglieder aus.
Als Sicherheitskräfte am 20. September 2023 das Gefängnis von Tocorón im venezolanischen Teilstaat Aragua stürmten, bot sich ihnen ein seltsames Bild. Die 11 000 angerückten Soldaten und Polizisten stiessen in der mehr als zwei Quadratkilometer grossen Anlage auf mehrere Restaurants, diverse Geschäfte und Verkaufsstellen für Drogen, moderne Sportanlagen, eine Diskothek, ein Wettbüro und sogar auf einen kleinen Zoo mit Flamingos.
Seit Jahren stand das Gefängnis unter der Kontrolle des dort inhaftierten Bandenchefs Héctor Guerrero Flores und seines kriminellen Netzwerks Tren de Aragua. Die Bande hatte das Gefängnis zu einem eigentlichen Freizeitkomplex ausgebaut. Von dort aus kontrollierte sie die international tätige kriminelle Organisation, die inzwischen laut Schätzungen mehr als 5000 Mitglieder zählt.
Erst mit der schieren Menge an Einsatzkräften gelang es den Ordnungshütern, die staatliche Kontrolle wieder herzustellen. Dennoch gelang Guerrero Flores und den übrigen Anführern des Tren de Aragua die Flucht. Es wird spekuliert, dass sie vorgewarnt wurden oder gar als Gegenleistung für die Aufgabe der Haftanstalt ihre Freiheit aushandeln konnten.
Die Bande wächst – und breitet sich bis in die USA aus
Die kriminelle Organisation hat inzwischen in Südamerika so viele Ableger, dass sie durch die Vertreibung von Guerrero Flores und seinen Kumpanen nicht wesentlich geschwächt wurde. Im Gegenteil, in den letzten zwei Jahren hat sie sich auch in den USA festgesetzt, wie das FBI Anfang 2024 bestätigt hat.
Das Department of Homeland Security schätzte letztes Jahr, dass in den USA mindestens 600 venezolanische Migranten Verbindungen zum Tren de Aragua haben, wovon etwa 100 eigentliche Bandenmitglieder sein sollen. Laut Schätzungen leben insgesamt über 800 000 Venezolaner in den Vereinigten Staaten.
Das amerikanische Aussenministerium hat eine Belohnung von 12 Millionen Dollar für Hinweise ausgesetzt, die zur Festnahme der Anführer der Organisation führen. Diese rückte jüngst in den Fokus der Öffentlichkeit, als die Trump-Regierung 261 angebliche kriminelle Migranten ohne ordentliches Verfahren auf Grundlage eines Kriegsgesetzes aus dem 18. Jahrhundert nach El Salvador abschob und behauptete, die grosse Mehrheit von ihnen seien Mitglieder des Tren de Aragua. Präsident Trump begründete das Vorgehen damit, dass die kriminelle Organisation das venezolanische Regime unterwandert habe und die Bandenmitglieder nun eine Invasion der USA organisierten.
Beginn mit Erpressung von Gefangenen
Der 1983 geborene Héctor Guerrero Flores alias Niño Guerrero hat sich bereits in seiner Jugend kriminell betätigt. Nach einem Polizistenmord wurde er 2010 gefasst und ins Gefängnis von Tocorón gebracht. Dort war er trotz mehreren spektakulären Fluchten bis 2023 überwiegend in Haft. Im Gefängnis gründete er die kriminelle Organisation – wahrscheinlich benannt nach einer früheren lokalen Bahngewerkschaft, die mit kriminellen Mitteln für die Interessen ihrer Mitglieder kämpfte. Die kriminelle Bande drangsalierte die übrigen Gefangenen und erpresste von ihnen finanzielle Zuwendungen. Sie setzte die Wärter unter Druck und sorgte dafür, dass die Gefangenen gegen Bezahlung Sonderbedingungen erhielten – mehr Familienbesuche, besseres Essen, Lieferung von Waren.
Die Bande profitierte von einer neuen inoffiziellen Politik der venezolanischen Regierung, die Macht in den schwer kontrollierbaren Gefängnissen Venezuelas, in denen viel Gewalt herrscht, an Bandenführer zu delegieren. Diese sollten unter den Gefangenen für Ruhe sorgen und Aufstände verhindern. Mit der wachsenden Macht von Guerrero Flores innerhalb der Strafanstalt begann sich der Tren de Aragua aber über die Gefängnismauern hinaus auszubreiten. Ehemalige Häftlinge waren Mittelsmänner, die draussen Ableger organisierten und andere kriminelle Banden kooptierten. Der Tren de Aragua fasste in mindestens 6 der 24 Teilstaaten Venezuelas Fuss und entwickelte neben der Erpressung von Geldern neue Tätigkeitsbereiche wie den illegalen Goldabbau und die Cyberkriminalität.
Internationale Ausbreitung über die Migration
Als 2017 Venezolaner begannen, in Massen das Land zu verlassen, öffnete sich für die kriminelle Organisation der Weg in die Nachbarländer. Die Migration war eine Folge einer Repressionswelle und der katastrophalen Wirtschaftslage. Fast acht Millionen Venezolaner haben seither ihr Land verlassen.
Die meisten Migranten flohen über die kolumbianische Grenze, wo es ursprünglich kaum Hilfe oder Infrastruktur für Flüchtende gab. Diese Lücke nutzte der Tren de Aragua gezielt aus: Er richtete Schlepperdienste ein und bot den Migranten komplette Pakete an – inklusive Transport, Verpflegung, Unterkunft und Unterstützung am Zielort. So sicherte sich die Organisation zunehmend die Kontrolle über die Fluchtrouten und die Menschen, die sie nutzten.
Der Tren de Aragua infiltrierte wichtige Exilgemeinden venezolanischer Migranten in Südamerika und rekrutiert dort mit Erpressung und Gewalt neue Mitglieder. Dabei entstanden halbautonome Zellen, die dem Kommando in Venezuela unterstehen und Gewinne dorthin abführen. Besonders betroffen sind Kolumbien, Peru, Chile und seit zwei Jahren auch die USA; zudem soll die Verbrecherbande in Brasilien, Bolivien und Ecuador aktiv sein. Südamerikanische Staaten sehen in ihr eine zentrale Sicherheitsbedrohung – vermutlich machten sie Druck auf das venezolanische Regime, das Gefängnis von Tocorón 2023 zu stürmen.
Untersuchungen der auf organisierte Kriminalität in Lateinamerika spezialisierten Denkfabrik Insight Crime zeigen, dass der Tren de Aragua im Ausland ähnlich agiert wie in Venezuela. Er versucht, kleinere lokale kriminelle Organisationen zu kooptieren und setzt dafür extreme Gewalt ein. Er lässt Menschen brutal ermorden und verbreitet Videos davon gezielt, um Angst zu verbreiten und Widerstand zu brechen. Hat er erst die Kontrolle über lokale Banden übernommen, richtet er ein Geldwäschesystem ein und besticht Polizei und Behörden.
Brutale Ausbeutung von Frauen
Vom ursprünglichen Fokus auf Erpressung von Geldern sowie Schlepperdienste hat die Organisation ihre kriminellen Aktivitäten stark ausgeweitet. Zu nennen sind insbesondere Menschenhandel, illegale Kreditvergabe zu Wucherpreisen, Drogenhandel in kleineren Mengen und Auftragsmorde. In Chile soll die Organisation für den letztjährigen Mord am abtrünnigen venezolanischen Offizier Ronald Ojeda verantwortlich sein.
Besonders entsetzlich ist auch der Handel mit venezolanischen Frauen für die Prostitution. Junge Frauen aus schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen werden gezielt angeworben. Ihnen werden Arbeitsstellen im Ausland angeboten, oder Bandenmitglieder gehen mit ihnen ein Scheinverhältnis ein. Manche werden auch erpresst, wenn Angehörige bereits in der Gewalt der Organisation sind. Die Angeworbenen reisen dann mit den Schleppern der Organisation in ein Zielland. Dort werden von ihnen horrende Reisekosten verlangt, welche sie mit Prostitution abzahlen müssen.
Um die Frauen gefügig zu machen, werden immer wieder einzelne ermordet und die Taten über soziale Netzwerke verbreitet. In Mexiko konnte sich der Tren de Aragua wegen der Dominanz der Drogenkartelle bisher nicht stark etablieren – dennoch wurden allein in der Hauptstadt seit letztem Jahr mehrere Venezolanerinnen ermordet aufgefunden. Auch dort soll die Organisation das Geschäft mit venezolanischen Prostituierten kontrollieren.
Zurzeit hat der Tren de Aragua aber eher mit Gegenwind zu kämpfen. Dessen weitere Ausbreitung wurde mit der Änderung des Ziels der venezolanischen Migration nach der Covid-Pandemie erschwert. Haben die Venezolaner ursprünglich vor allem spanischsprachige Länder südlich von Panama angepeilt, wurde in den letzten Jahren immer mehr Mexiko zum Durchgangsland und die USA zum Ziel. Die Grenzschliessung durch Präsident Trump steht dort einer weiteren Ausbreitung nun entgegen.
Verlängerter Arm von Venezuelas Regierung?
Trump bezeichnet den Tren de Aragua sinngemäss als verlängerten Arm der Regierung – doch dafür fehlen bisher belastbare Beweise. Unbestritten ist jedoch, dass die Organisation von der nachsichtigen Haltung der Regierung gegenüber kriminellen Bandenbossen in den Gefängnissen profitierte. Auch können kaum Zweifel daran bestehen, dass die Kriminellen Teile der Sicherheitskräfte und lokale Behördenmitglieder korrumpiert haben. Anders liesse sich kaum erklären, warum die Anführer bei der Erstürmung des Gefängnisses entkommen konnten und bis heute kein ranghohes Mitglied der Gruppe in Venezuela festgenommen wurde. Der derzeitige Aufenthaltsort von Guerrero Flores ist unbekannt; Beobachter vermuten ihn weiterhin in Venezuela oder im benachbarten Kolumbien.