Belgien debattiert über die freie Meinungsäusserung bei öffentlichrechtlichen Sendern. Warum wird Flamen zugemutet, was Wallonen erst nach redaktioneller Prüfung sehen dürfen?
Was kann in zwei Minuten nicht alles geschehen. Marco Odermatt und Co. legen in Kitzbühel locker 3300 Meter zurück. Ein Satellit überfliegt Deutschland und die Schweiz. Und sogar auf der Grossbaustelle Stuttgart 21 wird wohl irgendwo ein Nagel eingeschlagen.
Aber reichen zwei Minuten auch, um eine Rede des neuen amerikanischen Präsidenten Donald Trump zu analysieren und gegebenenfalls einzuschreiten? Und vor allem: Inwiefern sollte dies überhaupt gerechtfertigt sein? Über diese Fragen ist in Belgien eine heftige Debatte entbrannt.
Denn an jenem Tag hatte RTBF, der öffentlichrechtliche Fernsehsender des frankofonen Landesteils, die gloriose Idee, Trumps Inaugurationsrede mit einer leichten Verzögerung auszustrahlen – mutmasslich als weltweit einzige TV-Station. Der Entscheid wurde den Zuschauerinnen und Zuschauern kurz vor der Sendung mitgeteilt.
«Ministerium der Zensur und der Propaganda»
Die Begründung dafür lässt aufhorchen. Man habe bei verschiedenen Gelegenheiten festgestellt, dass Trump rassistische, rechtsextreme oder hasserfüllte Äusserungen von sich gegeben habe, sagt die Chefredaktion. Um «Zeit für Analyse und Entschlüsselung» zu haben, habe man deshalb die Verzögerung eingebaut.
Der verdutzte Zuschauer fragt sich: Was hätten die Sendungsmacher in den gut zwei Minuten denn tun wollen, wenn sich Trump tatsächlich ihrem Kodex zuwider verhalten hätte? Hätten sie die Passage mit einem Piepton überdeckt? Einen schwarzen Balken eingeblendet? Die Sendung unterbrochen, um die Aussagen journalistisch «einzubetten»?
Letztlich erachtete die Redaktion eine Intervention offenbar nicht als notwendig, die knapp halbstündige Rede wurde integral und ohne journalistische Einmischung gezeigt. Die Welle der Empörung, die sie mit ihrem Aktivismus auslöste, konnte sie allerdings nicht mehr stoppen: Besonders aufgebracht zeigte sich Georges-Louis Bouchez, der Parteipräsident des liberalen Mouvement réformateur (MR).
«Wer sind diese Experten, die das Gute und das Böse bestimmen?», fragte er auf X. Man könne Trumps Politik ja ablehnen, nichts aber rechtfertige diese mediale Intervention. «Die Programmdirektion des RTBF ist nicht das Ministerium der Zensur und der Propaganda», sagte er und versprach, politisch aktiv zu werden. Die Bildung der neuen belgischen Regierung mit MR-Beteiligung wird in den nächsten Wochen erwartet.
Mediale «Brandmauer»
Zensur. Das Wort war ausgesprochen – und löste wiederum in den Redaktionsstuben des TV-Senders einen Aufschrei aus. Bouchez’ Wortmeldung sei «inkorrekt, ignorant und beleidigend». Mit Zensur oder einer Beschränkung der freien Meinungsäusserung habe all dies nichts, aber auch gar nichts zu tun, sagt die Journalistenvereinigung von RTBF. Der Verzögerungsentscheid basiere auf demokratisch abgestützten Verordnungen und publizistischen Grundsätzen.
In der Tat gibt es im französischsprachigen – nicht aber im flämischen – Belgien für öffentlichrechtliche Sender neben der politischen auch eine mediale «Brandmauer». Dieser will die Banalisierung von rechtsextremen oder zu Hass aufrufenden Äusserungen verhindern. Darum strahle man Reden von Politikern, von denen gemäss redaktioneller Einschätzung eine derartige «Gefahr» ausgehe, nie direkt aus, schreibt die Redaktion. Man wolle nichts verschweigen oder zensurieren, sondern Aussagen gegebenenfalls lediglich «in Perspektive setzen».
Klar ist: Seiner journalistischen Glaubwürdigkeit – ein Gut, um das öffentlichrechtliche Sender in ganz Europa mehr denn je kämpfen müssen – hat RTBF einen Bärendienst erwiesen. Immerhin hat Trump selbst wohl noch nichts von der Lokalposse erfahren. Sonst hätte er wohl bereits mit Zöllen auf belgische Biere gedroht. Oder kommt die entsprechende Nachricht in Belgien womöglich einfach erst mit Verspätung an?