Leichen in den Strassen, Berichte über Vergewaltigungen und Plünderungen: Eindrücke aus der Millionenstadt Goma, deren Einnahme durch die Rebellengruppe M23 auch westliche Regierungen aufgeschreckt hat.
«Geht weg von der Mauer, ab hinter das Haus!», ruft der Sicherheitsbeauftragte eines Hotels in Goma. Dorthin sind die wenigen Ausländer geflüchtet, die sich noch in der ostkongolesischen Millionenstadt aufhalten. Draussen fliegen die Gewehrkugeln. Die Besetzer von Goma – die Rebellengruppe M23 und Soldaten der rwandischen Armee – versuchen, Plünderer mit Warnschüssen zu vertreiben. Vergeblich. Junge Männer räumen das Lager einer Hilfsorganisation gegenüber dem Hotel aus. Wenig später ziehen Plünderer mit Solarpanels vorbei.
«Wenn sie hier eindringen, rennt runter zum Boot», sagt der Sicherheitschef in einer weiteren Anweisung. Die Flucht ginge in dem Fall über den Kivusee, an dessen Ufer Goma liegt. Nur Pass und Geld dürfte man mitnehmen. Das Wichtigste ist es, Ruhe zu bewahren.
Doch das ist schwierig in Goma, der zweitgrössten Stadt im Osten von Kongo-Kinshasa; einer Stadt inmitten einer Region, die Schauplatz eines Krieges ist, der seit den 1990er Jahren nie ganz aufgehört hat. Ein Krieg, der laut manchen Schätzungen sechs Millionen Menschenleben gekostet hat – und der in diesen Tagen mit der Invasion der Stadt durch die M23-Rebellen einen neuen Höhepunkt erreicht.
Die M23 ist die stärkste Rebellengruppe in einer Region, in der sich mehr als 100 bewaffnete Gruppen tummeln. Sie zählt laut Uno-Experten etwa 8000 Kämpfer. Ihre Schlagkraft verdankt sie wesentlich der Unterstützung durch das Nachbarland Rwanda. Rwandas Regierung wirft Kongo-Kinshasa vor, Rebellen zu unterstützen, die die rwandische Regierung stürzen wollten. Die M23 dient als ein bewaffneter Arm Rwandas in Kongo-Kinshasa.
Am Sonntagabend griff die M23 Goma an, inzwischen hat sie die Stadt fast vollständig unter Kontrolle. Eine erste Bilanz: Rund hundert Personen wurden getötet, mindestens tausend teilweise lebensgefährlich verletzt. Uno-Mitarbeiter sagten während der Invasion, in den Strassen lägen Leichen, die Spitäler der Stadt seien mit den vielen Verwundeten überfordert. Dazu gab es Berichte über Vergewaltigungen.
Rumänische Söldner haben die Flucht ergriffen
Die Toten in den Strassen hat das Internationale Komitee vom Roten Kreuz inzwischen entfernt. Doch in manchen Vierteln von Goma wird auch am Mittwoch noch geschossen. Manche Milizionäre, Wazalendo (Patrioten) genannt, die mit der kongolesischen Armee gegen die M23 kämpften, leisten noch Widerstand.
Söldner aus Rumänien dagegen, die ebenfalls von Kongos Regierung angeheuert worden waren, sind über die Grenze nach Rwanda geflohen. Manche haben ihre Waffen vor einem Luxushotel zurückgelassen. Dabei wäre es ihre Aufgabe gewesen, Goma zu verteidigen.
In den Strassen, in denen es ruhiger ist, trauen sich Menschen wieder aus dem Haus. Sie bleiben am Strassenrand stehen und beobachten, was los ist. Überall liegen Militäruniformen. Soldaten, die sich nun als Zivilisten ausgeben, haben sie weggeworfen.
Viele Menschen in Goma empfinden es als Schmach, dass die kongolesische Armee es nicht schafft, das Territorium des Landes zu verteidigen. Oder nicht einmal Goma, eine Stadt, die auch eine wirtschaftliche Drehscheibe im rohstoffreichen Osten des Landes ist und die Hunderttausenden von Vertriebenen Zuflucht geboten hat. Allein seit Jahresbeginn wurden in Ostkongo laut dem Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR 400 000 Menschen neu vertrieben.
«Es tut weh, zu sehen, wie sich unsere Soldaten ergeben müssen», sagt die Menschenrechtsaktivistin Sifa Maombi. Sie möchte ihren richtigen Namen aus Angst vor Repressalien nicht genannt haben. In der Vergangenheit hat sie öffentlich gefordert, die internationale Staatengemeinschaft solle Rwanda mit Sanktionen belegen, weil der Nachbarstaat den Konflikt in Kongo schüre. Nun hat Maombi Angst. «Als M23-Kämpfer vor unserem Haus vorbeimarschierten, ist mir das Herz in die Hose gerutscht», sagt sie am Telefon.
Der Angriff auf Goma hat Regierungen aufgeschreckt, für die der Konflikt im Herzen Afrikas oft nur eine Fussnote ist. Der Uno-Sicherheitsrat trat zweimal kurzfristig zusammen, die Regierung Kenyas berief für Mittwoch eine Notfallsitzung der Ostafrikanischen Gemeinschaft ein, an der die Präsidenten von Rwanda und Kongo-Kinshasa teilnehmen sollten – was nicht geschah. Mehrere Länder, darunter die USA, Frankreich und Grossbritannien, haben die rwandische Präsenz in Kongo verurteilt.
Die 2012 entstandene M23 hatte im Jahr ihrer Gründung Goma schon einmal eingenommen. Damals drohten mehrere Länder, etwa die USA, Hilfsgelder für Rwanda einzufrieren – worauf die M23 die Besetzung nach wenigen Tagen abbrach. Ob sich dieses Szenario wiederholt, ist unsicher. Rwanda ist inzwischen ein wichtiger Partner für den Westen. Das Land ist einer der grössten Lieferanten von Friedenstruppen; seine Soldaten bekämpfen im Norden von Moçambique islamistische Terroristen; es bietet europäischen Ländern auch an, für sie Flüchtlinge aufzunehmen.
Übergriff auf andere Länder der Region befürchtet
Experten warnen seit längerem davor, dass der Konflikt in Ostkongo zu einem regionalen Krieg führen könnte. Die Gegend grenzt auch an Uganda und Burundi, viele andere Staaten verfolgen Interessen in der Region. Südafrika zum Beispiel hat Friedenstruppen in Ostkongo stationiert, mehrere seiner Soldaten sind in den vergangenen Tagen getötet worden.
Die internationale Dimension der Vorgänge in Goma ist am Dienstag auch sichtbar geworden, als Hunderte von Demonstranten in der kongolesischen Hauptstadt Kinshasa Botschaften angriffen. Neben der Vertretung Rwandas wurden unter anderem jene der USA, Frankreichs und Belgiens zum Ziel – derjenigen Länder, denen die Kongolesen vorwerfen, zu wenig zur Lösung des Konflikts beizutragen.
Für die Bewohner von Goma ist der Krieg in der Region ein Albtraum, der in den vergangenen Tagen realer geworden ist denn je in den letzten Jahren. Ein Bewohner erzählt, seine Frau sei von einer Kugel getroffen worden, als sie in den Hof vor ihrer Holzhütte gegangen sei. Der Mann musste im Quartier fragen, wer ein Auto habe und sich trotz den Schüssen getraue, ins Spital zu fahren. «Sie hatte grosse Schmerzen, und als wir im Spital ankamen, gab es keinen Strom», erzählt er. Die Ärzte hätten ohne Maschinen operieren müssen, was vier Stunden gedauert habe. Die Frau überlebte, doch ihr Mann sorgt sich um seine vier Kinder: «Sie haben gesehen, wie ihre Mama plötzlich am Boden lag. Seither essen sie nicht mehr.»
Die Bevölkerung von Goma ist gezwungen, trotz der schlechten Sicherheitslage ihre Häuser zu verlassen, um Essen und Wasser aufzutreiben. Der Krieg hatte die Lebensmittelpreise schon vor dem Angriff der M23 in die Höhe getrieben. Mehl, Bohnen und Palmöl kosteten plötzlich viermal so viel wie üblich. Für viele war das zu teuer, um Vorräte für den Notfall anzulegen.
So ziehen Kinder am frühen Mittwochmorgen mit gelben Kanistern zum Kivusee und schöpfen Wasser. Plötzlich rennen sie in den See, planschen und lachen. Vier Tage lang waren sie eingesperrt, hörten Schüsse, manche versteckten sich unter ihren Betten. Nun muss die Anspannung raus, zumindest für einen Moment. Dann kehrt die Angst zurück.