Die Terrorismusexpertin Audrey Kurth Cronin hat anhand von 457 Fallbeispielen untersucht, wie Terrorgruppen enden. Im Interview erklärt die Professorin, warum militärische Gewalt allein nicht zum Ziel führen kann.
Frau Cronin, die ganze Welt fragt sich, wie die Hamas besiegt werden kann. Das Ende von Terrorgruppen ist Ihr Spezialgebiet. Wie ist es dazu gekommen?
Das ergab sich aus einem Gespräch, das ich nach den Anschlägen des 11. September 2001 mit einem Senator hatte. Ich war damals die Terrorismusexpertin des Forschungsdienstes des amerikanischen Kongresses. Der Senator sagte: «Ich weiss nichts über den Nahen Osten. Ich verstehe diese ganze Situation nicht, ich brauche eine breitere Perspektive.» Da erzählte ich ihm von den verschiedenen Arten, wie Terrorgruppen enden. Ein paar Jahre später schrieb ich ein Buch darüber, das 457 Fallbeispiele enthält. All diese Gruppen folgen ausnahmslos den gleichen Mustern.
Wie würden Sie den aktuellen Zustand der Hamas beschreiben?
Die Hamas wurde in diesem Krieg schwer getroffen. Doch das Ziel der israelischen Regierung ist es, die Gruppe endgültig zu zerstören. Ich glaube nicht, dass die Hamas eine Gruppe ist, die sich allein durch militärische Operationen beseitigen lässt. Das Problem ist, dass die israelische Regierung ihre militärische Stärke nicht mit einem politischen Plan verbunden hat. So kommt es fast zwangsläufig dazu, dass die Hamas wieder erstarkt.
Sie haben kürzlich geschrieben, dass im gegenwärtigen Krieg alle verlieren – ausser die Hamas. Wie meinen Sie das?
Das Ziel einer terroristischen Gruppe besteht nicht nur darin, Menschen zu töten. Sie sucht immer auch ein Publikum. Aufgrund der überwältigenden militärischen Reaktion der Israeli hat die Hamas Sympathien gewonnen, auch international. Natürlich hatte Israel das Recht, sich gegen die schrecklichen Angriffe vom 7. Oktober zu verteidigen. Aber die Reaktion hat die Grenzen dessen überschritten, was die meisten in der Welt erwartet haben.
Kann ein rein militärisches Vorgehen gegen Terrorgruppen überhaupt erfolgreich sein?
Selten. Militärische Repression funktioniert dann, wenn man die Mitglieder einer Gruppe von der breiten Bevölkerung trennen kann. Zum Beispiel die Tamil Tigers in Sri Lanka. Ihre Mitglieder wurden in den Nordosten gedrängt und dort in grosser Zahl getötet, was das Ende der Gruppe bedeutete. In Gaza ist die Situation eine andere. Die Hamas ist tief in der Zivilbevölkerung verankert und an ein bestimmtes Gebiet gebunden.
Viele Palästinenser befürworten zudem den Kampf der Hamas gegen Israel.
Die Hamas behauptet, sie unterstütze die Palästinenser bei ihrem Streben nach einem unabhängigen Palästina. Allerdings hat sie eine entsetzliche Missachtung jener Menschen an den Tag gelegt, die sie zu vertreten vorgibt. Das ist der Kern der Schwäche der Hamas. Wenn man einen Angriff durchführt, sich dann in Tunneln versteckt und zulässt, dass Zivilisten zu Zehntausenden getötet werden, dann vertritt man sicher nicht die Interessen der Palästinenser.
Auch Yahya Sinwar, der Anführer der Hamas in Gaza, versteckt sich in einem Tunnel. Ist der Krieg vorbei, wenn die Israeli ihn finden?
Israel versucht seit mindestens 25 Jahren, die Anführer der Hamas zu töten. Ihr Gründer wurde im Jahr 2004 getötet. Die Gruppe lebte trotzdem weiter. Inzwischen hat Israel wohl über hundert Hamas-Kader getötet. Bewirkt hat das wenig. Die Hamas konnte sich immer wieder neu aufstellen.
Gibt es denn Fälle, bei denen eine solche «Enthauptung» einer Gruppe funktioniert hat?
Ja, zum Beispiel bei der peruanischen Guerillaorganisation Leuchtender Pfad. Ihr Anführer Abimael Guzmán war eine sehr charismatische Person. Indem er verhaftet und vor Gericht gestellt wurde, schufen die Behörden ein demütigendes Bild von ihm, was der Gruppe schwer geschadet hat. Am besten funktioniert die «Enthauptung» bei jungen Gruppen, die sehr hierarchisch strukturiert sind, auf einem Personenkult beruhen und keinen Plan für eine Nachfolge haben. Gegen Gruppen, die es schon lange gibt, die stark vernetzt sind und von der breiteren Bevölkerung unterstützt werden, funktioniert das kaum. All dies trifft auf die Hamas zu.
Sie sagen, die Missachtung des eigenen Volkes sei die grosse Schwäche der Hamas. Trotzdem geniesst sie laut Umfragen immer noch grosse Unterstützung. Wie erklären Sie sich das?
Diese Umfragen sind mit Vorsicht zu geniessen. Ihre Popularität steigt jeweils während Kriegen an und sinkt danach wieder rapide ab. Die Palästinenser im Gazastreifen leben seit 2007 unter einem brutalen Regime. Die Hamas bedroht, verfolgt und foltert. Sie ist keine beliebte Gruppe. 2007 lag ihre Popularität bei 67 Prozent, 2014 unterstützte nur noch ein Drittel der Bevölkerung die Hamas. Ich denke, dass viele Palästinenser verstanden haben, dass die Hamas ihnen schadet.
Und glauben Sie, dass Israel das ausnutzen kann?
Der vielversprechendste Weg besteht darin, die Stimmen in der palästinensischen Zivilbevölkerung aufzugreifen, die gegen die Hamas sind, um zu versuchen, eine ernsthafte Alternative zur Hamas und einen realistischen Weg aus der Gewalt zu finden.
Israel hat offenbar bereits versucht, mit Anführern der Clans von Gaza zu kooperieren. Einer von ihnen wurde umgehend von der Hamas ermordet. Sie wird doch jeden Versuch, eine Alternative aufzubauen, sabotieren.
Ich spreche nicht von morgen, sondern von einem langfristigen Plan. Wer wird die befreiten Gebiete kontrollieren? Wer wird die Polizeikräfte aufstellen? Bis jetzt habe ich noch nichts von der israelischen Regierung gesehen, was wie ein langfristiger politischer Plan aussieht. Im Moment wird die Hamas jedes Mal, wenn die Israeli ihre militärischen Operationen beendet haben, in diesen Gebieten wieder aktiv. Das ist kein guter Plan.
Sehen Sie eine militärische Besetzung des Gazastreifens als eine Option?
Nein. Israels Armee ist dafür nicht gross genug. Zudem droht auch an der Grenze zu Libanon eine Eskalation. Der erste Schritt muss ein Waffenstillstand im Gazastreifen sein. Das ist die Vorbedingung für alles Weitere, auch für die Verringerung der Spannungen mit dem Hizbullah an der Nordgrenze.
Wie soll denn dabei sichergestellt werden, dass die Hamas verschwindet?
Die Situation wird zumindest kurzfristig weiterhin von Gewalt geprägt sein. Es wird immer noch Hamas-Mitglieder geben, die jeden angreifen, der versucht, Stabilität herzustellen. Aber es ist wichtig, die Bereitschaft der Zivilbevölkerung zu gewinnen, mit einem neuen Regime zusammenzuarbeiten. Wenn man die Zivilbevölkerung erst einmal auf seiner Seite hat, kann man diese Unterstützung nutzen, um die Hamas einzuschränken. Wenn die Palästinenser einen Weg sehen, ihre Leben wieder aufzubauen, werden sie sich von der Hamas distanzieren. Aber das wird nicht über Nacht geschehen.
Israel müsste also akzeptieren, dass die Hamas zumindest vorübergehend an der Macht bleibt?
Mein Vorschlag ist, die Hamas scheitern zu lassen. Am häufigsten scheitern Terrorgruppen, weil sie Fehler begehen, die zu einer Gegenreaktion führen. Nach dem Attentat der irischen Real IRA auf einen Supermarkt in Omagh im Jahr 1998, bei dem 29 Menschen starben, waren Protestanten und Katholiken so entsetzt, dass sie sich gegen die Gruppe verbündeten und ihren Anführer verrieten. Dadurch wurde sie stark geschwächt. Ich sehe das Massaker vom 7. Oktober als ein klassisches Beispiel für einen solchen Fehler, der zu einer Gegenreaktion gegen die Hamas führen kann.
Eine solche Gegenreaktion muss sich aber zuerst noch manifestieren.
Man kann zwei schlimme Dinge auf einmal haben, oder? Die Palästinenser können gleichzeitig auf die Hamas und auf Israel wütend sein. Es wird wichtig sein, dass Israel einen Weg findet, glaubhaft zu zeigen, dass es einen Unterschied zwischen den palästinensischen Zivilisten und der Hamas sieht.
Um die Hamas scheitern zu lassen, wie Sie es vorschlagen, müsste Netanyahu seine Erzählung vom «totalen Sieg» aufgeben. Denken Sie, dass er dazu fähig ist?
Nein. Ich habe den Eindruck, dass Netanyahu nicht den Wunsch hat, den Krieg wirklich zu beenden. Der totale Sieg ist ein sehr attraktives theoretisches Konzept. Aber es lässt sich nicht erreichen, insbesondere nicht mit diesen Mitteln. Auch die Hamas hat ein Interesse daran, den Krieg fortzusetzen.
Dann bleibt noch die Frage, wer anstelle der Hamas im Gazastreifen übernehmen könnte. Die Amerikaner scheinen auf die Palästinensische Autonomiebehörde zu setzen.
Ich glaube nicht, dass die Palästinensische Autonomiebehörde die nötige Legitimität hat. Viele Palästinenser werfen ihr vor, zu eng mit Israel zu kooperieren. Eventuell hätte eine neue Führung der Behörde bessere Chancen. Aber diese Frage ist völlig offen. Zum einen, weil die Israeli nicht klar sagen, was für sie akzeptabel wäre. Und zum anderen, weil sich alle anderen Akteure zurückhalten, solange es keinen Waffenstillstand gibt. Wir werden sehen, was die Regierung Netanyahu tun wird. Israel braucht eine Regierung, die die nationalen Interessen über den Wunsch nach Machterhalt stellt.
Audrey Kurth Cronin
Die Professorin leitet das Institut für Strategie und Technologie an der Carnegie-Mellon-Universität in Pittsburgh. Zuvor arbeitete sie als Terrorismusexpertin für den Forschungsdienst des amerikanischen Kongresses. Im Jahr 2009 erschien ihr Buch «How Terrorism Ends. Understanding the Decline and Demise of Terrorist Campaigns».







