Am Donnerstag hat die Terrororganisation drei Israeli und fünf thailändische Gastarbeiter freigelassen. Dabei ist es zu chaotischen Szenen gekommen. Gleichzeitig bangt Israel um jene Familie, die zu einem Symbol für das Geisel-Drama geworden ist.
Um kurz nach 10 Uhr Ortszeit bricht auf dem «Platz der Geiseln» in Tel Aviv Jubel aus. Agam Berger, die letzte von fünf entführten Soldatinnen, ist soeben der israelischen Armee übergeben worden. Zwei junge Frauen liegen sich in den Armen und brechen in Tränen aus. Auch heute haben sich einige hundert Menschen hier versammelt, doch es sind weitaus weniger als noch am vergangenen Samstag, als zum zweiten Mal israelische Geiseln und palästinensische Gefangene im Rahmen der Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas ausgetauscht wurden.
Der dritte Austausch am Donnerstag war ursprünglich gar nicht geplant gewesen. Denn am Wochenende hatte die Terrororganisation entgegen der Abmachung vier verschleppte Soldatinnen freigelassen, nicht aber die 28-jährige Zivilistin Arbel Yehud. Israel verzögerte daraufhin die Rückkehr der Palästinenser in den Norden des Gazastreifen. Nach zähen Verhandlungen kam es am Sonntag zu einer Einigung: Israel würde den Weg in den Norden freigeben und die Hamas im Gegenzug zusätzliche Geiseln freilassen. Schon am Montag strömten Zehntausende Palästinenser in den zerstörten Norden des Küstengebiets.
Am Donnerstag wurde nun Arbel Yehud gemeinsam mit dem 80-jährigen Gadi Moses freigelassen, einige Stunden nach Agam Berger. Zusätzlich kamen nach 482 Tagen in Geiselhaft auch fünf thailändische Gastarbeiter auf freien Fuss, die ebenfalls am 7. Oktober 2023 entführt worden waren. Die Episode zeigt: Beide Seiten gehen Kompromisse ein und haben ein Interesse daran, an der Waffenruhe festzuhalten – bislang.
Ist die Familie Bibas noch am Leben?
«Heute habe ich grössere Hoffnungen, dass die Abmachung eingehalten wird, als vergangene Woche», sagt Margalit Bokritz. Die 67-Jährige ist schon am frühen Morgen zum «Platz der Geiseln» gekommen, um den Austausch auf der grossen Leinwand zu verfolgen. Doch das Schicksal einer verschleppten Familie trübt ihre Freude an diesem Donnerstag. «Ich hoffe immer noch, dass die Familie Bibas am Leben ist», sagt die Pensionärin. «Aber leider sieht es nicht gut aus.»
Viele Israeli teilen ihre Sorge. Die Vereinbarung zwischen Israel und der Hamas sieht vor, dass zuerst alle verschleppten Frauen und Kinder, die noch am Leben sind, freikommen sollen. Tote Geiseln hingegen werden am Ende der ersten Phase der Waffenruhe übergeben. In Israel steigt deshalb die Angst, dass Shiri Bibas und ihre zwei kleinen Kinder Kfir und Ariel nicht mehr am Leben sind.
Kfir war nur neun Monate alt, als die Hamas am 7. Oktober in das Haus der Familie Bibas eindrang und sie entführte. Videos vom Tag des Überfalls zeigen die verzweifelte Mutter, die schluchzend ihre zwei rothaarigen Buben an sich presst, als bewaffnete Männer sie abführen. Seit 16 Monaten bangt das ganze Land um die Familie, die zu einem Symbol für die Grausamkeit der Terroristen geworden ist.
Psychologische Kriegsführung der Hamas
Schon im November 2023 behauptete die Hamas, dass Shiri, Kfir und Ariel bei einem israelischen Luftangriff ums Leben gekommen seien. In jenem Monat sollen die Islamisten Israel angeboten haben, ihre Leichen auszuhändigen. Die israelische Armee hat den Tod allerdings bis heute nicht bestätigt. Am Samstag sagte Israels Militärsprecher Daniel Hagari, man sei wegen des Schicksals der Familie Bibas sehr besorgt. Am Mittwochabend hat Israels Regierung die Hamas aufgefordert, Klarheit über den Zustand der Familie zu schaffen.
Bisher steht eine Antwort noch aus. Doch es ist unwahrscheinlich, dass die Hamas von dem abweicht, was sie bereits in der Vergangenheit verkündet hat. Im November 2023 hatte sie gar ein perfides Video veröffentlicht, in welchem dem Familienvater Yarden Bibas vor der Kamera gesagt wird, dass seine Familie tot sei. Viele Israeli halten trotzdem immer noch an einem Fünkchen Hoffnung fest. Sie wollen nicht wahrhaben, dass die Familie nicht mehr lebt.
So sind auf dem Platz der Geiseln überall Plakate mit den Fotos der Familie Bibas zu sehen. Eine junge Frau in der Menschenmenge sagt, dass den Terroristen nicht zu trauen sei. «Sie haben auch gesagt, dass Daniella Gilboa bei einem Luftangriff getötet worden sei. Aber sie kam am Samstag frei.»
Chaos bei der Geiselfreilassung in Khan Yunis
Die Sorge um die Familie Bibas wird am Donnerstag allerdings von der Wut über die Geschehnisse im Gazastreifen überdeckt. Denn zunächst veranstaltet die Hamas im Norden der Enklave eine bizarre Propaganda-Show rund um die Freilassung der Soldatin Agam Berger. Zwei Stunden später führen Terroristen des Palästinensischen Islamischen Jihad die beiden Zivilisten Arbel Yehud und Gadi Moses im südlichen Gazastreifen vor. Als Kulisse dient das Haus des getöteten Hamas-Chefs Yahya Sinwar.
Die sichtlich verängstigten Geiseln werden vor den Kameras gezwungen, durch eine tobende Menge von Schaulustigen zu gehen, die von bewaffneten Terroristen zurückgedrängt wird. Erst nach einer schier endlosen Prozession durch die Strassen von Khan Yunis werden die beiden Israeli dem Roten Kreuz übergeben – den fünf thailändischen Gastarbeitern hingegen bleibt diese Demütigung erspart. Am frühen Nachmittag erreichen die Geiseln endlich israelisches Staatsgebiet.
In Israel sorgten die wüsten Szenen für Empörung: Israels Regierung kündigte an, die Entlassung von palästinensischen Häftlingen zu verzögern, bis die sichere Freilassung israelischer Geiseln in Zukunft garantiert sei. Am frühen Abend hiess es dann, Israel habe entsprechende Garantien erhalten. Kurz darauf wurden 110 palästinensische Häftlinge freigelassen. Vorerst hält die Waffenruhe – doch das Bangen um die Familie Bibas geht weiter.