Amit Soussana wurde über fünfzig Tage lang in Gaza festgehalten – und dort von ihren Bewachern missbraucht und gefoltert. Es handelt sich offenbar um keinen Einzelfall.
«Er hat mich auf die Ecke der Badewanne gesetzt. Und ich habe meine Beine zusammengepresst. Ich habe Widerstand geleistet. Und er hat mich weiter geschlagen und seine Pistole an mein Gesicht gedrückt. Dann hat er mich ins Schlafzimmer geschleift.» Das berichtet Amit Soussana in einem am Dienstag veröffentlichten Artikel der «New York Times». Die 40-jährige Israelin ist die erste zurückgekehrte Geisel, die öffentlich über den sexuellen Missbrauch in der Gefangenschaft der Hamas spricht.
In den vergangenen Wochen häuften sich die Hinweise darauf, dass israelische Geiseln in den Händen der Hamas missbraucht wurden. Mediziner, die zurückgekehrte Geiseln behandelt haben und mit denen die NZZ sprechen konnte, berichteten von sexuellen Übergriffen, denen die nach Gaza Verschleppten ausgesetzt waren. Die Uno hielt in einem kürzlich veröffentlichten Bericht über die sexuelle Gewalt während des Hamas-Massakers am 7. Oktober fest, dass Entführte mit hoher Wahrscheinlichkeit Opfer sexueller Gewalt geworden seien. Dazu gebe es «klare und überzeugende Informationen».
Der Fall Amit Soussana zeigt, unter welchen furchtbaren Bedingungen die Geiseln in den Händen der Hamas festgehalten werden. Rund hundert lebende Geiseln sind den Qualen und der Folter wahrscheinlich bis heute ausgesetzt.
Der Hamas-Wächter fragte nach ihrer Menstruation
Amit Soussana stammt aus dem Kibbuz Kfar Azza, der sich in der Nähe des Gazastreifens befindet. Am Tag des Hamas-Massakers, als die Terroristen über 1200 Menschen töteten und rund 250 entführten, drangen gegen 10 Uhr morgens etwa zehn bewaffnete Männer in ihr Haus ein. Die Terroristen schlugen sie, schleiften sie durch ein nahe gelegenes Feld und brachten die schwer verletzte Frau schliesslich in ein Auto, das kurz hinter der Grenze zu Gaza wartete. Nachdem sie noch in ein anderes Auto gezerrt worden war, fand sie sich einige Stunden später in einem Zimmer in einer Privatwohnung wieder. Ihre beiden Bewacher ketteten sie an den Fensterrahmen.
Für die nächsten zwei Wochen wurde Soussana allerdings nur von einem der Männer bewacht. Sein Name war Mohammed. Der Mann, den Soussana als dick, durchschnittlich gross und mit Haarausfall beschreibt, habe sie oft nach ihrer Menstruation und ihrem Sexleben gefragt. Eines Tages zwang Mohammed seine Gefangene, sich zu duschen. Als Soussana sich abtrocknete, befahl er ihr, das Handtuch abzunehmen und sich auf die Ecke der Badewanne zu setzen. Dann kam es zum Übergriff.
Der «New York Times» sagte Soussana, Mohammed habe sie gezwungen, einen sexuellen Akt auszuführen. Weitere Details nennt sie nicht. Weniger als 24 Stunden nach ihrer Freilassung berichtete Soussana zwei Ärzten sowie einer Sozialarbeiterin von dem Übergriff. Diese Schilderungen stimmten laut der «New York Times» mit dem überein, was die Frau der Zeitung sagte.
Den Missbrauch habe Mohammed offenbar bereut. «Ich bin ein schlechter Mensch, ein schlechter Mensch. Bitte sag es nicht Israel», hat er laut Soussana im Nachhinein von sich gegeben. Von weiterem Missbrauch in der Geiselhaft berichtet die Frau nicht. Anschliessend wurde Soussana mehrere Male in verschiedenen Wohnungen in Gaza festgehalten, kurz vor ihrer Befreiung musste sie gemeinsam mit anderen Geiseln in einem Tunnel ausharren – etwa 40 Meter unter der Erde, wie ihre Peiniger sagten. Nach 55 Tagen wurde Amit Soussana im Rahmen der Feuerpause zwischen Israel und der Hamas befreit.
Amit Soussana ist offenbar kein Einzelfall
Das Martyrium von Amit Soussana ist laut Ofrit Shapira-Berman kein Einzelfall. Die Psychotherapeutin hat kurz nach dem Angriff der Hamas eine Organisation von Ärzten und Therapeuten gegründet, die sich um die Überlebenden des Massakers kümmert. «Nach allem, was wir wissen, wurden so gut wie alle Geiseln ohne Zustimmung angefasst», sagt sie im Gespräch. «Wir wissen, dass einige der Geiseln, die sich noch in Gaza befinden, sexuell missbraucht wurden und weiterhin missbraucht werden.»
Ebenso ist klar, dass die Hamas nicht nur Amit Soussana, sondern auch weitere Geiseln gefoltert hat. Soussana berichtet, sie sei mit ihren zusammengebundenen Händen an einen Stock gefesselt worden. Danach sei sie «wie ein Huhn» aufgehängt worden. Die Terroristen hätten sie dann mehrmals geschlagen und getreten.
Der Arzt Hagai Levine leitet das Gesundheitskomitee des Forums für Geiseln und vermisste Familien in Israel. Im Gespräch vor einigen Wochen berichtete er, forensische Untersuchungen hätten ergeben, dass viele der zurückgekehrten Geiseln mit zusammengebundenen Händen für lange Zeit an der Decke aufgehängt worden seien. «Darunter auch Kinder», sagt Levine. «Mit meinen eigenen Augen habe ich gesehen, wie befreite Geiseln an ihren Körpern Schleifspuren und Spuren von Schlägen aufwiesen.»
In Israel stiessen die Aussagen von Amit Soussana auf ein breites Echo. Wenige Stunden nach der Veröffentlichung des Artikels in der «New York Times» schrieb Israels Präsident Yitzhak Herzog auf X, Amit Soussana spreche für alle Opfer der verachtenswerten Sexualverbrechen und des Missbrauches der Hamas. «Die ganze Welt hat die moralische Verpflichtung, hinter Amit – und allen Opfern – zu stehen, den brutalen Terror der Hamas zu verurteilen sowie die sofortige Freilassung aller Geiseln zu fordern.»
Am Dienstagabend nannte der Sprecher der israelischen Streitkräfte, Daniel Hagari, die Aussagen Soussanas über ihren sexuellen Missbrauch ein wichtiges Dokument. Sie zeugten von den entsetzlichen Haftbedingungen der 134 im Gazastreifen verbleibenden Geiseln. «Das ist der Grund, warum wir in Gaza sind. Das ist der Grund, warum wir kämpfen.»