Der Kampf gegen die Inflation ist noch nicht gewonnen. Dennoch hält die EZB angesichts der schwachen Konjunktur im Euro-Raum an ihrem Zinssenkungskurs fest. Die Unsicherheit bleibt allerdings hoch.
Auch im neuen Jahr bleibt das geldpolitische Umfeld für die Europäische Zentralbank (EZB) komplex. Das Dilemma der Zentralbanker besteht in zwei gegenläufigen Entwicklungen: Einerseits ist die Inflation in der Euro-Zone noch nicht vollständig besiegt, was für eine eher strikte Geldpolitik spräche. Andererseits ist die Wirtschaftslage fragil, was eine eher lockerere Ausrichtung der Geldpolitik erfordert.
Die EZB fährt angesichts dieses Nebels auf Sicht. Am Donnerstag hat sie den Leitzins um vorsichtige 0,25 Prozentpunkte auf nun 2,75 Prozent reduziert.
Das Inflationsziel ist in Reichweite
Dieses Zinsniveau gilt unter Zentralbankern weiterhin als (leicht) restriktiv. Es sollte also die Konjunktur und damit die Teuerung tendenziell bremsen. Das ist insofern folgerichtig, als die Inflationsrate für den Euro-Raum im Dezember wieder geringfügig von 2,2 auf 2,4 Prozent gestiegen ist. Zudem verharrte die Kerninflation mit 2,7 Prozent wie schon seit Monaten auf einem zu hohen Niveau. Auf die Kerninflation achten Notenbanker wegen ihrer mittelfristigen Aussagekraft besonders genau – unter anderem deshalb, weil aus ihr die volatilen Preise für Energie und Lebensmittel herausgerechnet werden.
Die Ökonomen der Notenbank sind jedoch zuversichtlich, dass sich der seit zwei Jahren laufende Trend kontinuierlich sinkender Inflationsraten auch 2025 fortsetzen wird. Für das Gesamtjahr rechnen sie mit einer Teuerung von 2,2 Prozent und für das Jahr 2026 mit einer von 1,9 Prozent. Damit hätte die EZB ihr Inflationsziel von mittelfristig 2 Prozent nach drei Jahren mit sehr hohen Preissteigerungen wieder erreicht.
Eine wichtige Ursache für die erwartete Entwicklung in den kommenden Monaten ist ein nachlassender Lohndruck. Derzeit wird die Teuerung vor allem von den Dienstleistungspreisen angetrieben, die sich im Dezember einmal mehr um 4 Prozent verteuerten, wobei Löhne eine wichtige Rolle spielten. Der sogenannte experimentelle Lohn-Tacker der EZB, ein Frühindikator für die Lohnentwicklung im Euro-Raum, zeigt jedoch einen erheblich sinkenden Lohndruck im zweiten Halbjahr an.
Ein ähnliches Bild habe sich allerdings bereits Anfang vergangenen Jahres ergeben, merkten jüngst die Ökonomen der Commerzbank an. Doch dann seien die Löhne im zweiten Halbjahr nicht etwa gefallen, sondern sogar noch gestiegen. Zwar rechnen auch sie mit einer Entspannung an der Lohnfront aufgrund einer sinkenden Verhandlungsmacht der Gewerkschaften angesichts der schwächelnden Konjunktur.
Längerfristig erhöhter Preisdruck
Die Commerzbank-Ökonomen weisen aber auch darauf hin, dass das Inflationsproblem noch nicht gelöst sei. Das gilt wohl umso mehr, als auch strukturelle Trends, nämlich die Deglobalisierung, die demografische Entwicklung und die Dekarbonisierung der Wirtschaft, zu einem tendenziell höheren Preisdruck in vielen Branchen führen dürften. Ferner würde ein Handelskrieg mit gegenseitigen Zöllen, auf den die USA und die EU möglicherweise zusteuern, ebenfalls für etwas höhere Preise sorgen.
Das weckt Zweifel, ob weitere Zinssenkungen in den kommenden Monaten wirklich gerechtfertigt sind. Finanzmarktteilnehmer gehen gegenwärtig nämlich davon aus, dass die EZB die Zinsen bis Juni auf 2,25 und bis Oktober auf 2 Prozent senken wird. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass sich die Konjunktur in der Euro-Zone mit einem erwarteten Wachstum im Jahr 2025 von lediglich rund einem Prozent eher harzig entwickelt. Zudem herrscht in den beiden grössten Mitgliedsländern Deutschland und Frankreich eine erhebliche politische Lähmung. Die deutsche Industrie verharrt in einer Rezession.
Damit gehen die erwarteten Entwicklungen in der Euro-Zone und in den USA auseinander. Für die Vereinigten Staaten rechnen Marktteilnehmer angesichts der dort kräftigeren Wirtschaft bei zugleich höherer Inflation nur noch mit ein oder zwei Zinssenkungen in diesem Jahr.
Diese Tendenzen spiegeln sich längst auch am Devisenmarkt, wo der Euro zum Dollar in den vergangenen Monaten stark nachgegeben hat und zwischendurch nahe der Parität stand – also dem Punkt, an welchem ein Euro genau einen Dollar kostet. Dieser Wertzerfall des Euro kurbelt zugleich die Inflation im Euro-Raum an, da dadurch die Preise importierter Güter steigen. Die Gemengelage wird für die Mitglieder des EZB-Rates auch in den kommenden Monaten knifflig bleiben.
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