Der angehende deutsche Kanzler hat funktionierende Netzwerke und ein Gespür für Europa. Allerdings könnten ihn die Sozialdemokraten noch ausbremsen.
Olaf Scholz hinterlässt auf der europäischen Bühne nur kleine Fussstapfen. Der SPD-Kanzler hat dort wenig Eindruck gemacht. Seinen Abgang bedauert eigentlich niemand. Scholz hat mehr verhindert als gestaltet. Ohne das grosse Land in der Mitte Europas lässt sich der Staatenverbund kaum bewegen.
Doch jetzt ist Bewegung gefragt, und zwar schnell. Der amerikanische Präsident Trump hat angekündigt, die Ukraine und Europa sicherheitspolitisch sich selber überlassen zu wollen. Er drängt auf ein schnelles Ende des Krieges und sieht als Partner lieber Putin als Selenski. Die EU wird er ignorieren, solange das geht. Was heisst das für die Europapolitik des deutschen Wahlsiegers?
Noch in der Wahlnacht sagte Friedrich Merz, es sei sein oberstes Ziel, Einigkeit in Europa herzustellen und die EU zu stärken, um «Schritt für Schritt mehr Unabhängigkeit (zu) erreichen von den Vereinigten Staaten». Diese Worte dürften ihm nicht leicht gefallen sein. Denn Merz ist ein in der Wolle gefärbter Transatlantiker.
Er war zehn Jahre lang Vorsitzender der Atlantik-Brücke, einer Organisation, die sich seit den 1950er Jahren für das deutsch-amerikanische Verhältnis einsetzt. Merz ist mit den USA beruflich und privat eng verbunden und bezeichnet Ronald Reagan als eines seiner politischen Idole.
Diese USA-Kompetenz ist ein Vorteil bei der Bewältigung der Beziehungskrise mit Washington. Was aber noch wichtiger ist: Auch das unter Scholz schwer gestörte Verhältnis zu Frankreich dürfte sich nun schlagartig verbessern. Seit Ende 2023 tauschen sich Macron und Merz regelmässig aus. Der Deutsche war – eine seltene Ehre – als Oppositionsführer im Élysée zu Gast, und vor Macrons Reise zu Trump am Montag stimmten die beiden ihre Positionen ab.
Über einen europäischen Atomschirm reden
Er wolle die zwei Jahre, die Macron noch an der Macht sei, nutzen, hatte Merz im Januar gesagt, um an seiner Vision eines souveränen Europa mitzuarbeiten. Das klingt schon eher nach Entente cordiale als nach einem blossen Neustart des deutsch-französischen Motors. In Paris jedenfalls sind die neuen Töne willkommen. Und auch Merz’ vorsichtiges Abrücken vom harten Veto gegen gemeinsame Schulden hat man registriert. Nur so, glaubt Macron, liessen sich die europäischen Armeen in nützlicher Frist aufrüsten.
Merz wird auch auf Osteuropa zugehen, das seit dem Krieg stark an Gewicht gewonnen hat. Polen ist politisch und militärisch unentbehrlich, um die sicherheitspolitischen Antworten auf die Abwendung der USA von Europa zu finden. Merz hat das verstanden und schätzt Donald Tusk ausdrücklich als einen notwendigen Alliierten bei der Entwicklung einer europäischen Verteidigungsstrategie.
Der zukünftige Bundeskanzler betrachtet das sogenannte «Weimarer Dreieck» (Deutschland, Frankreich, Polen) als wichtige Ergänzung zu den tendenziell trägen europäischen Institutionen. Wenn es schnell gehen muss, um strategische Initiativen zu lancieren, dann gehen Koalitionen von Freiwilligen voran. Dazu gehört natürlich auch Grossbritannien, die zweite Atommacht im Westen Europas. Die Debatte über einen europäischen Atomschirm müsse jetzt beginnen, sagt Merz.
In der Brüsseler Blase wird zurzeit eine Diskussion geführt, ob das belastete Verhältnis zwischen Merz und der Kommissionspräsidentin von der Leyen die europapolitischen Ambitionen Berlins bremsen könnte. Kommen sich da zwei Alpha-Personen ins Gehege und blockieren sich gegenseitig? Von der Leyen, so die These, sei als politische Ziehtochter von Angela Merkel für Merz ein rotes Tuch. Doch diese Lesart unterschätzt Merz’ Rationalität, von der Leyens Opportunismus und den Machtwillen beider.
Bremsen Merz die Koalitionäre?
Es ist klar, dass sowohl der Bundeskanzler als auch die Kommissionspräsidentin ihren Einfluss nur maximieren können, wenn sie sich gegenseitig stützen. Aussenpolitische Machtentfaltung in der EU ist kein Nullsummenspiel zwischen den grossen Mitgliedstaaten und der Kommission. Sie kann Macht nur dann projizieren, wenn Einklang zwischen den Ebenen herrscht.
Es gibt also auch in Brüssel die berechtigte Hoffnung, dass Friedrich Merz, anders als der Vorgänger, seine Rolle als Europäer annimmt und ausfüllt. Ein Vorbehalt besteht allerdings. Merz wird voraussichtlich einer Koalitionsregierung mit den Sozialdemokraten vorstehen. Werden die roten Minister zum pazifistischen oder zum Russland-nahen Flügel gehören, könnten sie die Ambitionen des Regierungschefs bremsen.
Aber auch hier darf man hoffen. Darauf nämlich, dass es Sicherheitspolitiker vom Schlag des sozialdemokratischen Verteidigungsministers Boris Pistorius sein werden, die das Rennen machen. Dann stünde einem deutschen Bundeskanzler mit europäischer Mission nichts im Weg.
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