Der 74-Jährige hatte einer psychisch kranken Studentin zum Tod verholfen. Laut dem Gericht hat er dabei die Grenzen des Zulässigen überschritten.
Der Arzt handelte aus Überzeugung, doch diesmal ging es nicht gut für ihn aus. Für drei Jahre muss der 74-Jährige nun in Haft, weil er einer 37-jährigen schwer depressiven Studentin Medikamente verabreichte, an denen sie starb. Das Landgericht Berlin verurteilte den Mann am Montag dafür zu drei Jahren Freiheitsentzug.
Das Gericht argumentierte, die Frau sei aufgrund ihrer Krankheit nicht zur freien Willensbildung in der Lage gewesen. Der Mediziner habe die Grenzen des Zulässigen überschritten und sich damit des Totschlags schuldig gemacht.
Was diese «Grenzen des Zulässigen» sind, ist in Deutschland nicht so leicht zu bestimmen. Bis Februar 2020 war die «geschäftsmässige Förderung der Selbsttötung» verboten. Dann erklärte das Bundesverfassungsgericht diese Regelung für verfassungswidrig: Der Mensch habe ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben. Dies umfasse das Recht, sich das Leben zu nehmen, und auch die Freiheit, sich dabei von Dritten helfen zu lassen, urteilten die Richter und gaben dem Gesetzgeber auf, das Thema neu zu regeln.
Zwei Gesetzentwürfe fielen durch, nun fehlt eine Regelung
Dies ist bisher nicht gelungen, obwohl es Versuche gab. Im Juli 2023 fielen zwei konkurrierende Gesetzentwürfe im Bundestag durch. Nach der Sommerpause wollte man das Thema erneut angehen. Eine neue Rechtslage gibt es bis anhin nicht. Seit Februar 2020 operiert also jeder, der einem anderen beim Sterben hilft, in einer Grauzone. Hierbei ist entscheidend, abzugrenzen, ob die Person sich selbst und aus freien Stücken getötet hat oder ob jemand sie getötet hat. Letzteres wäre strafbar.
Genau diese Frage stellte sich auch vor dem Berliner Landgericht. Aus Sicht der Richter war die Patientin wegen ihrer Depression nicht zur freien Willensbildung in der Lage. Die Studentin der Tiermedizin soll Anfang Juni 2021 Kontakt zu dem Arzt aufgenommen haben. Laut Anklage stellte ihr der Mediziner knapp zwei Wochen später tödlich wirkende Tabletten mit dem Wirkstoff Chloroquin zur Verfügung, die sie jedoch erbrach.
Die Frau kam in die geschlossene Psychiatrie und nahm von dort erneut Kontakt zu dem Arzt auf. Obwohl die Geschädigte schwankend in ihrem Entschluss zu sterben gewesen sei, habe der Angeklagte ihr am 12. Juli 2021 – unmittelbar nach ihrer Entlassung aus der Psychiatrie – in einem angemieteten Hotelzimmer eine Infusion mit einer tödlichen Dosis des Medikaments Thiopental Inresa gelegt, teilte das Gericht mit.
Der freie Wille ist entscheidend
Den nötigen Handgriff nahm die Frau selbst vor. Sie drehte das Rädchen auf, um die Infusion in Gang zu setzen, und starb innert Minuten. Jedoch hatte sie noch am selben Tage in ihrem Entschluss geschwankt.
Ist es eine Selbsttötung, wenn der Sterbewillige nicht bei klarem Verstand ist? Der Arzt hatte zu Prozessbeginn erklärt, er habe zu keinem Zeitpunkt an der «Urteils- und Entscheidungsfreiheit» der Frau gezweifelt. Er habe bei ihr «die grosse seelische Not und die Entschlossenheit» gesehen, sich notfalls mit Gewalt umzubringen. Sein Verteidiger sagte im Plädoyer, es fehle an einer gesetzlichen Regelung – «das ist ein grosses Problem». Aus Sicht des Gerichts hatte der Arzt die Patientin beeinflusst und sie zu einem Werkzeug gegen sich selbst gemacht, wodurch er Täter geworden sei.
Der 74-jährige Arzt, der einer Sterbehilfeorganisation angehört, war in einem früheren Prozess um Sterbehilfe freigesprochen worden. Damals hatte er einer an einer chronischen Darmerkrankung leidenden Frau Beihilfe zum Suizid geleistet. Gegen die jetzige Verurteilung will er Revision einlegen. Dies hatte er schon beim Prozessauftakt für den Fall seiner Verurteilung angekündigt.