In den Grossstädten der USA macht man sich oft lustig über die Bewohner im Landesinnern. Es herrscht das Klischeebild von konservativen Hinterwäldlern mit Bibel und Gewehr. Ein Besuch in der Kleinstadt Emporia in Kansas.
Die Leute in den amerikanischen Grossstädten blicken gerne auf die Bewohner der Provinz herunter. Die Gliedstaaten im Landesinnern nennen sie Flyover-States, weil es aus ihrer Sicht keinen Grund gibt, dort haltzumachen. Die Menschen dort bezeichnen sie als Hillbillys oder Rednecks, im Sinne von rückständigen, bildungsfernen Arbeitern und Bauern. In den Zeiten von Trump und der politischen Polarisierung hat sich die Verachtung noch zugespitzt.
Oft sehen selbst gebildete Städter, die mehrheitlich demokratisch wählen, die ländlichen, eher konservativen Regionen im Landesinnern pauschal als Trump-Land, mit dem Unterton: Die sind alle ungebildet, arm, rassistisch, homophob, evangelikal. In eine ähnliche Richtung ging die fatale Äusserung von Hillary Clinton im Jahr 2016, als sie sagte, die Hälfte der Trump-Wähler sei ein Haufen Bedauernswerter.
Die «Hinterwäldler» selbst wissen natürlich um diese stereotypen, verächtlichen Zuschreibungen, die ihnen sowohl an der Ost- wie an der Westküste verpasst werden, und das verstärkt ihre Entfremdung, nicht nur gegenüber Washington und der nationalen Politik, sondern generell gegenüber den Metropolen und den «Liberalen».
Die Klischees werden immer wieder durchkreuzt
Die Ignoranz liegt eher auf der Seite der urbanen «Elite» als auf der Seite der ruralen Provinzler. Das Hinterland ist nämlich viel heterogener, moderner und bunter, als man in New York, Chicago und Los Angeles oft glaubt. Nehmen wir zum Beispiel die Kleinstadt Emporia. Sie liegt im ländlichen Kansas im Mittleren Westen, einem der Gliedstaaten, die wegen ihrer rechteckigen Form spöttisch «rectangular states» genannt werden, was an Quadratschädel denken lässt. Sowohl der Grossraum Emporia wie das Lyon County wie auch der ganze Gliedstaat Kansas sind republikanisch dominiert.
Wer jedoch durch die zentrale Commercial Street spaziert, staunt. Tatsächlich gibt es zwar eine Bar namens «Bourbon Cowboy» mit Country-Musik, Budweiser und Billardtischen; es gibt auch ein Lokal, wo man Axtwerfen ausüben kann, und einen Laden für Uniformen; schliesslich ist Emporia der Ursprungsort des Veterans Day. Aber wer zum Beispiel meint, an so einem Ort finde man keinen anständigen Kaffee, täuscht sich. Die Granada Coffee Company serviert Espresso und Cappuccino, und bei den Gravel City Roasters wird sogar selbst geröstet.
Es stimmt: Zahlreiche Pick-ups rattern durch den Ort, aber es gibt auch zwei Veloläden an der Hauptstrasse. Und es existieren zwar über zwanzig Kirchen, aber auch eine Moschee. Die Trox Gallery stellt Künstler aus der Umgebung aus – ganz ohne Sonnenuntergänge und röhrende Hirsche –, und die Buchhandlung Middle Ground ist unglaublich gross und reichhaltig für ein Städtchen mit gerade einmal 24 000 Einwohnern. Sogar eine Lokalzeitung gibt es: die «Emporia Gazette».
«Ja, wir können tatsächlich lesen!», sagt Cara Codney, darauf angesprochen. Sie serviert abends gelegentlich im «Mulready’s Pub», aber eigentlich arbeitet sie in der Marketing-Branche. Sie verfügt über einen Abschluss der Emporia State University und hat dort auch unterrichtet. Sie kennt die Herablassung und die Vorurteile gegenüber dem Landesinneren. Genauso nervt sie sich allerdings über die Idealisierung: «Konservative sprechen gerne vom ‹Heartland›, vom ‹Salz der Erde›, vom ‹Real America› – das ist genauso klischeehaft.» Schliesslich sei der Banker von der Wall Street genauso sehr Amerikaner wie der Redneck.
Der Anpassungsdruck
Das Wesentliche an Orten wie Emporia ist für sie die gegenseitige Abhängigkeit. «Du musst mit allen auskommen», sagt sie. «Vielleicht möchtest du dir morgen den Rechen vom Nachbarn ausleihen, bist sein Kunde oder schliesst ein Geschäft mit ihm ab. Selbst wenn du politisch oder weltanschaulich nicht mit ihm einiggehst, arrangierst du dich.» Das führe zu einem Konformismus, der bedrückend sein könne. Andererseits verhindere es Extreme. Meinungsblasen und Kulturkriege wie in den Grossstädten könne man sich nicht leisten. Die persönliche Beziehung geht vor.
Sie erinnert sich an eine Szene, die sie kürzlich an der Theke mitverfolgt hat. «Da sitzt ein Typ, ein Redneck, wie er im Buche steht. Er kommt mit dem Mann neben ihm ins Gespräch, der ihm erzählt, dass sein Bruder schwul sei. Und sie reden eine Stunde lang voller Empathie darüber, was das alles mit sich bringt.» Sie erwähnt, dass ausgerechnet in der Bourbon-Cowboy-Bar, die wie ein Saloon aus einem Western aussieht, seit drei Jahren Drag-Shows stattfinden. Und im Sommer zieht eine Pride-Parade durch den Ort. Es gab offenbar kaum Widerstand. Wem es nicht gefällt, der gehe einfach nicht hin, sagt sie. «Leben und leben lassen ist das Motto.»
Es gebe einige Trans- und Bi-Personen in Emporia, sagt Codney. Die soziale Kontrolle habe in diesem Fall auch positive Seiten. Wer sich homophob oder rassistisch äussere, erlebe rasch, dass sich die Leute von ihm distanzierten. Der Nachteil dieser Nähe sei, dass nichts privat bleibe. «Wenn ich heute Abend jemanden date, weiss es morgen ganz Emporia.»
Offenbar wird viel gelesen in Emporia
Was Codney ironisch «aggressive Freundlichkeit» nennt, erlebt man in Emporia von der ersten Minute an. Im Café Granada fragt die Besitzerin sofort, wer man sei, woher man kommt, was einen hierhergebracht habe. «Ich möchte ja nicht neugierig sein», sagt sie, «aber wissen Sie, es gibt nicht so viele Unbekannte hier . . .» Eine Frau an einem der Tische sagt: «Sie haben schöne Schuhe. Und sie sehen so bequem aus! Haben Sie die hier gekauft?» Als Fremder wird man nicht ausgegrenzt, sondern eingemeindet.
Diese Tendenz zeigt sich auch bei der Lokalzeitung. Ryann Brooks, Journalistin bei der «Emporia Gazette», sagt, man bemühe sich um eine konstruktive Berichterstattung. Voll auf Konfrontationskurs zu gehen, sei problematisch. «Man trifft die kritisierte Person am nächsten Tag und wird zur Rede gestellt. Es ist nicht einfach, die Balance zwischen Aufrichtigkeit und Höflichkeit zu finden.»
Lance Rundus von der Buchhandlung Middle Ground ist auf einer Farm aufgewachsen, hat in Theologie doktoriert und acht Jahre in Kamerun verbracht. Auf die Frage nach dem Namen der Buchhandlung sagt er: «Ich liebe die Vorstellung, irgendwo in der Mitte zu sein, nicht zu den grossen Gruppen zu gehören, dazwischen, aber mit beiden Beinen auf dem Boden. Das trifft auch gut die Situation der Leute im Mittleren Westen.»
In der Buchhandlung gibt es eine Spielecke mit Literatur für Kinder und Jugendliche, ein Café, Comics, Krimis, Thriller, Werke von lokalen und regionalen Autoren, national bekannte Belletristik und Fachliteratur. Offensichtlich wird viel gelesen in diesem unscheinbaren, abgelegenen Ort.
Es wäre naheliegend, anzunehmen, das habe mit der Emporia State University und dem Technical College zu tun. Doch Rundus winkt ab. «Es sind die ganz normalen Einwohner, die hier ein und aus gehen.»
«Ohne Zuwanderung würde Emporia schrumpfen»
Aber der weltoffene Geist in Emporia hat vermutlich schon etwas mit den Hochschulen zu tun, von denen die Universität mit ihren rund 6000 Studenten schon seit 1863 existiert. «Bemerkenswert ist, wie viele internationale Studenten wir hier haben», sagt Roger Heineken, der jahrzehntelang in der Administration der Universität arbeitete und als inoffizieller Stadthistoriker von Emporia gilt. «Sie möchten in den USA studieren, aber können sich die grossen Universitäten nicht leisten. Also landen sie hier, und nicht selten bleiben sie dann in der Region, wegen der Liebe, wegen eines Stellenangebots oder einfach, weil es ihnen gefällt.»
Tatsächlich gibt es diverse Industrien in der Umgebung, vor allem den Tierfutterhersteller Simmons, mit vielen Arbeitsplätzen. So kommt es, dass etwa dreissig Prozent der Einwohner Emporias Latinos sind. In der Schule macht der Anteil der Hispanics-Kinder sogar rund die Hälfte aus. «Ohne die Zuwanderung würde Emporia schrumpfen», sagt Brad Cochennet, der ein Bed and Breakfast führt. «Ich kann nichts mit der Hetze gegen Immigranten anfangen. Ohne sie und ihre Kinder würden solche Kleinstädte irgendwann von der Landkarte verschwinden.»
Auch Trey Cocking, der City-Manager, sagt, in Emporia heisse man Neuankömmlinge willkommen. Sie sollen sich hier sicher fühlen. «Für Kulturkriege und ideologische Grabenkämpfe gibt es hier keinen Platz. Beide Parteien sind bei uns eher gemässigt. Als Pragmatiker suchen wir konkrete Lösungen für konkrete Probleme von konkreten Individuen.»
Einen Hinweis auf diesen Geist der Mässigung gibt das Büro der Republikanischen Partei an der Hauptstrasse. Im Schaufenster prangen Schilder verschiedener lokaler und regionaler Politiker, die zur Wahl stehen. Das – eher kleine – Schild für Trump und Vance ist manchmal da, manchmal nicht, was vielleicht auf Ambivalenz oder Uneinigkeit im Team hindeutet. Hingegen sorgt Tim Walz, Kamala Harris’ Running Mate, für einen gewissen Stolz über die Parteigrenzen hinweg. Denn man hat das Gefühl, dass hier zum ersten Mal seit langem ein typischer bodenständiger Vertreter des Mittleren Westens die grosse Bühne betritt.
Kunst für alle
In der Trox Gallery kann man erleben, wie in Emporia auch Kunst im Dienste der Gemeinschaft steht. Der Ausstellungsraum ist eingebettet in einen Shop mit Kunsthandwerk, Bildern, Geschenken und einem Café. Die Galerie ist, ähnlich wie die Buchhandlung, ein beliebter Treffpunkt. «Die Herausforderung ist, auch Leute hierherzulocken, die sich eigentlich nicht für Kunst interessieren», sagt Kaila Mock, die Inhaberin.
Die 41-Jährige mit den Tattoos und Piercings ist hier aufgewachsen und hat an der Universität studiert. 2016 initiierte sie den Art-Walk. Einmal pro Monat werden in etwa zwanzig Läden, Restaurants und Kirchen Werke von lokalen Kunstschaffenden ausgestellt. Es ist zu einem Volkssport geworden, mit dem Flyer die Runde zu machen und sich an jeder Station den Besuch mit einem Stempel bestätigen zu lassen. Am Abend gibt es im «Mulready’s» eine Auslosung der Flyer, und der Sieger bekommt einen 50-Dollar-Geschenkgutschein.
Die aktuelle Ausstellung in der Galerie heisst «Reflections» und zeigt Selbstporträts von 35 Einwohnern aus Emporia und der Umgebung. Es sind Künstler dabei, aber auch Sonntagsmaler und Bastler. Der Reiz besteht für die Teilnehmer darin, sich mit ihren Werken an die Öffentlichkeit zu wagen, und für die Besucher, alte Bekannte in den Selbstbildnissen zu entdecken, von denen man nicht wusste, dass sie künstlerisch tätig sind.
Der praktische Träumer
Hinter vielen der überraschenden Initiativen steht Casey Woods. Er ist Direktor der Non-Profit-Organisation Emporia Main Street und Partner einer Beratungsfirma. Sowohl die Trox Gallery mit dem Art-Walk wie auch die Buchhandlung Middle Ground wären ohne ihn wohl nicht Realität geworden. Er versteht es, zwischen kreativen Ideen, wirtschaftlichen Gegebenheiten und der Gemeinschaft zu vermitteln. Er ist ein praktischer Träumer.
Aus diesem Geist sind auch andere Aktivitäten entstanden, die Emporia unverwechselbar machen. So gilt Emporia als Hauptstadt der seltsamen Sportart Discgolf, bei der man eine Art Frisbee in möglichst wenigen Würfen in einem Korb versenken muss. Auch Pole-Sitting, also das möglichst lange Sitzen auf einer Fahnenstange, wird hier gepflegt. «Wir sind keine Texaner und keine New Yorker, wir sind anders», sagt Woods und fügt den wunderbaren Satz an: «You have to embrace your weirdness.» Du musst deine Seltsamkeit annehmen, ja umarmen. Und etwas Fruchtbares daraus machen.
Dieser bodenständige Individualismus hat etwas Uramerikanisches und ist doch, aus der Nähe betrachtet, weit entfernt von den Klischees, die über entlegene Orte wie Emporia kursieren.