Der renommierte amerikanische Migrationsforscher Richard Alba ist mit Eltern aus Irland und Italien im New Yorker Schmelztiegel aufgewachsen. Katholiken hätten damals als schwer integrierbar gegolten, sagt er. Darüber lache man heute. Wieso nimmt die Fremdenfeindlichkeit in den USA aber trotzdem zu?
Herr Alba, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Donald Trump angesichts der illegalen Einwanderung an der amerikanischen Südgrenze von einer Invasion spricht?
Ein Teil seines Erfolges beruht genau auf solchen Äusserungen. Die Situation an der Grenze ist inakzeptabel, und es braucht eine Veränderung, sowohl des Grenzschutzes wie auch des ganzen Asylsystems. Aber das Stichwort illegale Immigration ist auch ein Symbol. Es steht für all das, was macht, dass sich viele Amerikaner nicht mehr zu Hause fühlen in ihrem eigenen Land, weil sich mit der rasanten Modernisierung und Globalisierung so viel geändert hat.
Donald Trump spricht auch von Ausländern, die das Blut der Amerikaner verunreinigten. Dabei sind die USA ja ein Einwanderungsland; trotzdem scheint auch hier die Fremdenfeindlichkeit zuzunehmen.
Ja, auch weil sie systematisch von gewissen Politikern bewirtschaftet wird. Es erinnert an das Jugoslawien der neunziger Jahre, als Führer wie Milosevic den ethnischen Hass schürten.
Migrationsexperte
Richard Alba – Migrationsexperte
dai. · Richard Alba, 1942 in der Bronx geboren und aufgewachsen, ist emeritierter Professor für Soziologie an der City University of New York (Cuny). Er ist vor allem bekannt geworden durch seine demografisch-historischen Untersuchungen; er zählt zu den führenden Experten im Bereich Migration und Integration. Zu seinen wichtigsten Büchern gehören «Italian Americans» (1985), «Blurring the Color Line» (2012), «Strangers No More» (2015) über die Integration von Immigranten in Nordamerika und Europa sowie «The Great Demographic Illusion» (2020), wo sich Alba gegen die verbreitete These einer weissen Mehrheitsgesellschaft, die sich wachsenden Minderheiten gegenübersieht, stellt. Die amerikanische Realität sei längst nicht mehr so «schwarz-weiss», argumentiert er.
Warum ist die Fremdenfeindlichkeit oft dort am grössten, wo es kaum Einwanderer gibt?
Die grösste Fremdenfeindlichkeit gibt es dort, wo auch die meisten Trump-Anhänger leben – also in Regionen, mit denen es wirtschaftlich und demografisch bergab geht. Die Leute dort werden von Zukunftsängsten geplagt; sie sehnen sich nach dem früheren Amerika zurück. Wirtschaftlich dynamische Regionen dagegen sind demografisch vielfältig. Es gibt dort viele Immigranten und eine hohe Akzeptanz ihnen gegenüber.
Im «früheren» Amerika waren die weissen Protestanten tonangebend. Nun befürchten weisse Konservative, dass sie irgendwann zur Minderheit werden. Auch politisch würden sie bald überstimmt, weil Nichtweisse tendenziell demokratisch wählen. Wenn man die jetzige demografische Entwicklung extrapoliert, soll das spätestens 2050 der Fall sein.
Diese Prognose ist doppelt falsch. Erstens wählen nicht alle Nichtweissen demokratisch, und zweitens existiert dieser Schwarz-Weiss-Gegensatz in der Realität gar nicht mehr.
Aber Nichtweisse wählen eher Demokraten, oder?
Das stimmt. Aber die Menschen ändern sich, auch Einwanderer. Es gehört zur Assimilation, dass sie sich nach einer gewissen Zeit nicht mehr nur durch ihre Hautfarbe oder Herkunft definieren, sondern über ihre Bildung, ihre Klasse, ihren Wohnort, ihren Beruf oder ihre persönliche Überzeugung. Und so wählen viele dann republikanisch.
Fürchten sich weisse Konservative also zu Unrecht davor, bald zur Minderheit zu gehören?
Die amerikanische Gesellschaft in zwei homogene Blöcke einzuteilen – hier die Weissen, da die People of Color –, ist zu simpel. Wir haben es immer mehr mit einem Kontinuum, mit fliessenden Übergängen und Mischungen zu tun. 15 Prozent der amerikanischen Neugeborenen haben Eltern von zwei verschiedenen «ethnischen» Gruppen, also Weissen, Latinos, Schwarzen und Asiaten – Tendenz steigend. 11 Prozent der Babys haben einen weissen und einen nichtweissen Elternteil. Viele von ihnen nehmen sich gar nicht mehr in diesen Kategorien wahr. Das ganze binäre, schwarz-weisse Denken, das sowohl von Konservativen wie von woken Linken gepflegt wird, bildet die heutige demografische Realität nicht mehr ab.
Gibt es eigentlich Bevölkerungsgruppen, die sich schwerer tun mit der Integration als andere?
Früher oder später integrieren sich alle. Manchmal dauert es halt zwei Generationen. In den USA hiess es früher, dass sich Italiener, Iren und andere Katholiken nicht integrieren könnten, weil ihre erste Loyalität immer dem Papst und nicht dem Präsidenten gelte. Auch von den osteuropäischen Juden hiess es, sie seien «zu anders». Darüber kann man heute nur noch lachen. Viele italienische Einwanderer hatten wenig berufliche Qualifikationen und konnten kaum lesen, so wie heute viele Hispanics. Aber nach einer Generation sprechen sie perfekt Englisch und steigen sozial auf.
Sie sprechen indirekt auch von sich selbst, oder?
In der Tat! Meine Mutter war die Tochter von irischen Einwanderern. Sie wuchs im New Yorker Quartier Hell’s Kitchen auf. Mein Vater war das Kind von Sizilianern. Nach der Heirat zogen sie in die Bronx, die damals segregiert war. Unser weisses Viertel war ziemlich vielfältig, aber die Schule klar irisch-katholisch geprägt. Mit meinem italienischen Namen war ich ein Sonderfall. In der Highschool bewegte ich mich vor allem unter Juden. Auch an der Columbia University gab es praktisch keine Italiener. Nicht, dass ich besonders darunter gelitten hätte, aber ich war immer ein bisschen ein Aussenseiter, und so begann ich mich für ethnische Unterschiede zu interessieren. Das wurde dann gewissermassen mein Beruf, und noch heute, mit 81, arbeite ich mich an diesen Fragen ab.
Ihre Jugend beschreibt den typisch amerikanischen Schmelztiegel. Lässt es sich statistisch messen, wie lange es dauert, bis eine Einwanderergruppe zu Amerikanern wird?
Ja. Langzeitforschungen zeigen, dass sich die grosse Mehrheit der Immigranten spätestens in der zweiten Generation gut integriert, ziemlich unabhängig von der Herkunft. Die Hautfarbe oder die kulturelle Differenz spielen eine geringe Rolle. Die Kinder der Einwanderer sind oft sogar erfolgreicher als die Alteingesessenen. Und es ist auch nicht so, dass sie Letzteren die Jobs wegnehmen. Denn die Einwanderer gliedern sich ja nicht nur in eine bestehende Gesellschaft ein; sie verändern die Gesellschaft und damit auch die Wirtschaft, indem sie zum Beispiel Innovationen anstossen und neue Jobs kreieren.
Aber in vielen Städten Europas gibt es Ausländer, die in Parallelgesellschaften leben und sich kaum integrieren.
Das hat mit der mangelnden Bereitschaft der Aufnahmegesellschaft zu tun. Es ist normal, dass Neueinwanderer zuerst unter sich bleiben. Aber vor allem ihre Kinder dürfen nicht benachteiligt und ausgeschlossen werden; sie müssen dieselben schulischen und beruflichen Möglichkeiten haben wie die anderen. In den USA sehen wir keinen Widerspruch darin, dass Einwanderer ihre Herkunftskultur pflegen und sich trotzdem ökonomisch und politisch integrieren. Wer hier geboren wurde, ist Amerikaner mit allen Rechten und Pflichten, egal wie er lebt, auch wenn seine Eltern illegal eingereist sind. In Deutschland hingegen ist die Erlangung der Staatsbürgerschaft erst seit dem Jahr 2000 erleichtert worden, und noch immer sind Voraussetzungen daran geknüpft. Man macht es den Immigranten und ihren Kindern schwerer als nötig. «Immigrant» und «Migration» haben dort immer noch einen negativen Beigeschmack.
Sie schreiben, Europa hinke den USA punkto Integration hinterher. Inwiefern?
Europa steht in Bezug auf die Einwanderer etwa dort, wo sich die USA in den 1950ern befanden. Seit der Jahrtausendwende ist die Arbeitswelt der gut bis hoch Qualifizierten in den USA viel diverser geworden. Das hat mit der Pensionierung der weissen Babyboomer zu tun, also der ab 1945 geborenen Weissen, die als Erste massenhaft höhere Bildung genossen. Viele Asiaten und Hispanics rückten nach, ethnische Differenzen lösen sich auf. Ein Land wie Deutschland hat diesen Prozess noch vor sich, auch weil der Babyboom erst Mitte der 1950er Jahre einsetzte. Die Elite dort definiert sich immer noch als weiss und christlich.
Aber Deutschland und auch die Schweiz verstehen sich nicht als Einwanderungsländer.
Es wird ihnen wegen der tiefen Geburtenrate gar nichts anderes übrigbleiben. Sie brauchen Einwanderung, um ihre Gesellschaft zu verjüngen, aus ökonomischen, aber auch sozialen und kulturellen Gründen, sonst vergreisen sie. Sie müssen die Lücken im Arbeitsmarkt füllen; und die Integration der Einwanderer in den Arbeitsprozess wird zu einer generellen Integration führen, auch der Muslime, spätestens in der zweiten Generation. Vor allem, wenn es der Wirtschaft gutgeht und eine tiefe Arbeitslosigkeit herrscht.
Wo liegen in den USA die grössten Probleme?
Ganz klar bei der Integration der Afroamerikaner. Viele weisse Amerikaner haben weniger Probleme mit nichtweissen Immigranten und sogar eingewanderten Afrikanern als mit Afroamerikanern, obwohl diese seit Generationen hier sind.
Woran liegt das?
Es ist der lange Schatten der Sklaverei. Wir hatten im Gegensatz zu den europäischen Ländern keine Kolonien, und die Sklaven waren vor unserer Haustüre. Es gab von Anfang an ein moralisches Problem damit, und die Sklavenhalter mussten eine rechtfertigende Ideologie entwickeln. Das Kernstück war die Behauptung einer rassischen Minderwertigkeit. Das wirkte selbst nach der Abschaffung der Sklaverei nach – mit den Jim-Crow-Gesetzen im Süden, die die Rassentrennung in den Schulen und im öffentlichen Verkehr festschrieben, und mit der Segregation nach Wohnorten im Norden. Gerade was die Siedlungspolitik angeht, wurde der Rassismus institutionalisiert. Umgekehrt haben Schwarze, die über Generationen diskriminiert wurden, Misstrauen gegenüber der Gesellschaft entwickelt. Ganz anders als die optimistischen Neueinwanderer.
Wie steht es eigentlich mit den Native Americans?
Denken wir an die Native Americans, denken wir oft an die Reservate, in denen die Menschen teilweise unter schrecklichen Bedingungen leben müssen. Aber sie sind nicht repräsentativ für die Gesamtheit. Viele Native Americans leben in Städten, gehen normalen Arbeiten nach, sind mit Weissen oder Schwarzen verheiratet und gut in die moderne Gesellschaft integriert.
Sie sagen, es führe kein Weg an der Einwanderung vorbei. Zugleich hat die Akzeptanz in der Bevölkerung jedoch vielerorts Grenzen, und rechtspopulistische Parteien florieren.
Ja, das ist ein Dilemma, und ich weiss auch nicht, wie man es lösen könnte.