Vielleicht war es seine letzte Rede zur Lage der Nation: Viele Amerikaner halten Joe Biden für zu alt, um weitere vier Jahre regieren zu können. Mit einem energischen Auftritt wollte der 81-Jährige das Gegenteil beweisen. Und das gelang ihm.
Für Joe Biden stand an diesem Abend enorm viel auf dem Spiel. Womöglich sein ganzes Vermächtnis: sein grosses Versprechen, Donald Trump nicht mehr an die Hebel der Macht zu lassen. Nur noch acht Monate sind es bis zur Präsidentschaftswahl. Aber in den Umfragen liegt Biden zurück. Die Öffentlichkeit nimmt ihn als schwachen und zu alten Präsidenten war, auch wenn die Lage der Nation keineswegs so düster ist, wie sie seine politischen Gegner gerne zeichnen.
In seiner programmatischen Rede vor den versammelten Kongressabgeordneten kam es am Donnerstagabend deshalb nicht darauf an, was er sagte, sondern wie er dabei wirkte. Denn wie Präsident Bill Clinton vor über 20 Jahren sagte: «Wenn die Leute sich unsicher fühlen, bevorzugen sie lieber jemanden, der stark ist und unrecht hat, statt jemanden, der schwach ist und recht hat.»
Die Demokratie ist in Gefahr – in den USA und Europa
Und tatsächlich zeigte Biden in seiner einstündigen Rede kaum Schwächen. Als der den Parlamentssaal betrat, schüttelte er Hände, lachte entspannt, machte Selfies mit Abgeordneten und liess sich von seinen Demokraten feiern. «Nochmals vier Jahre», skandierten sie laut. So, dass man glatt vergessen konnte, dass Bidens Zustimmungswerte bei abgrundtiefen 38 Prozent liegen.
Der Präsident machte von Beginn an klar, dass dies nicht nur ein wichtiger Moment für ihn und seine Wahlchancen ist, sondern auch für die USA und die Welt. Wie einst Präsident Franklin Roosevelt 1941 zur Zeit des Zweiten Weltkriegs sei er ins Capitol gekommen, um den Kongress «aufzuwecken» und das amerikanische Volk zu warnen. Die Freiheit und Demokratie sei in Gefahr – sowohl in den USA als auch in Europa. Putin werde in der Ukraine nicht halt machen: «Aber die Ukraine kann Putin stoppen, wenn wir ihr die Waffen liefern.»
Biden erinnerte an Ronald Reagans Rede in Berlin, als er den sowjetischen Staatschef 1987 aufrief: «Herr Gorbatschow, reissen Sie diese Mauer nieder.» Sein Amtsvorgänger, Donald Trump, sage nun zum russischen Präsidenten Wladimir Putin: «Mach zur Hölle alles, was du willst.» Biden spielte damit auf einen kürzlichen Wahlkampfauftritt an, bei dem Trump die Russen dazu ermunterte, Nato-Staaten anzugreifen, welche nicht genügend in ihre Verteidigung investierten. «Das ist inakzeptabel», erklärte Biden.
Die USA müssten Putin aufhalten. Die freie Welt stehe auf dem Spiel, erklärte Biden. Seine Botschaft an den Kremlchef laute: «Wir werden uns nicht beugen. Ich werde mich nicht beugen.» Biden forderte die Republikaner auf, das von ihnen im Repräsentantenhaus blockierte Hilfspaket für die Ukraine endlich zu verabschieden. «Die Geschichte schaut uns zu, genau wie die Geschichte vor drei Jahren am 6. Januar zuschaute, als Aufständische das Capitol stürmten und einen Dolch an die Kehle der amerikanischen Demokratie hielt.» Sein Amtsvorgänger versuche die Wahrheit über den 6. Januar zu begraben. Aber er wolle dies zu ihm sagen: «Du kannst dein Land nicht nur lieben, wenn du gewinnst.»
Hoffen auf die Macht der Frauen
Ohne Donald Trump ein einziges Mal namentlich zu erwähnen, sprach Biden immer wieder über «meinen Amtsvorgänger». So etwa auch, als er Kate Cox im Publikum begrüsste. Die Texanerin war mit einem Fötus schwanger, der aufgrund einer genetischen Fehlbildung keine Überlebenschance hatte. Weil ihr Heimatstaat aber keine Abtreibungen erlaubt, musste sie dafür in einen liberalen Staat reisen, auch um ihre eigene Gesundheit zu schützen. Trump hatte in seiner Amtszeit drei konservative Richter an den Supreme Court berufen und schuf damit eine Mehrheit an dem Gericht, welche das Recht auf Abtreibung 2022 kippte. Er sei stolz darauf, sagt Trump bis heute. Doch wer sich damit brüste, das landesweite Recht auf Abtreibung beendet zu haben, verstehe die Macht der Frauen nicht, meinte Biden. Er zeigte sich zuversichtlich, dass die Frauen für ihn und die Demokraten stimmen werden, um dieses Recht per Gesetz wieder zu etablieren.
Biden übte jedoch nicht nur Kritik an Trump. Er forderte ihn beim Kampf gegen die illegale Migration an der Südgrenze zu Mexiko zur Zusammenarbeit auf. Der Präsident verwies auf den von republikanischen und demokratischen Senatoren ausgehandelten Kompromiss über eine Verschärfung der Asylpolitik im Gegenzug für neue Hilfsgelder an die Ukraine. Die Vorlage scheiterte, weil die Republikaner vor Trump einknickten. Dieser wollte das Migrationsproblem nicht lösen, weil es sein wichtigstes Wahlkampfthema ist. Nun meinte Biden: «Wir können darüber streiten, wie wir die Grenze sichern oder wir können sie sichern.» Er und Trump könnten das Problem gemeinsam lösen.
Die rekordhohe Zuwanderung über die Südgrenze ist ein wichtiger Grund, warum die Amerikaner mit Biden unzufrieden sind. Ein zweiter Grund sind die gestiegenen Lebenskosten und Hypothekarzinsen. Biden versuchte, diese Sorgen anzusprechen. So versprach er etwa Steuerabzüge für Personen, die erstmals ein Haus kaufen. Gleichzeitig unterstrich er auch die Erfolge seiner grossen Investitionsprogramme. Unter anderem seien in seiner Amtszeit 800 000 neue Stellen in der verarbeitenden Industrie entstanden. Die Arbeitslosigkeit ist in den USA tatsächlich tief (unter vier Prozent) und die Löhne steigen wieder schneller als die Inflation. Biden forderte zudem höhere Steuern für Milliardäre und grosse Konzerne sowie höhere Löhne für Lehrer.
Humanitäre Militärmission für den Gazastreifen
Zum einem der heikelsten Themen kam der Präsident erst gegen das Ende seiner Rede: Der Krieg zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen. Der Konflikt spaltet Bidens eigene Partei. Auch am Donnerstagabend demonstrierten linke Aktivisten vor dem Weissen Haus für einen Waffenstillstand. Er habe «non-stop» auf ein Ende der Gewalt und eine Befreiung der Geiseln hingearbeitet, betonte der Präsident. Israel habe das Recht sich zu verteidigen, aber es trage auch eine «fundamentale Verantwortung» unschuldige Zivilisten zu schützen.
Um die humanitäre Not im Gazastreifen zu lindern, kündigte Biden eine amerikanische Militärmission an. Er beauftrage seine Armee, eine temporäre Anlegestelle für grosse Schiffe an Gazas Küste bauen, damit Nahrungsmittel, Medizin und Notunterkünfte in die Enklave gebracht werden könnten. An die Adresse der israelischen Regierung meinte Biden: «Humanitäre Hilfe kann keine zweitrangige Frage oder ein Verhandlungspfand sein.»
Langfristig könne der Konflikt aber nur durch eine Zweistaatenlösung beigelegt werden, betonte der amerikanische Präsident. Nur dies erlaube es Israel in Frieden mit den Palästinensern und den übrigen arabischen Nachbarstaaten zu leben.
Mit Humor gegen die Altersdebatte
Seinen stärksten Moment sparte sich Biden für den Schluss seiner Rede auf, als er mit Humor über seine 81 Jahre sprach: «Ich weiss, ich sehe vielleicht nicht so aus, aber ich bin schon eine Weile dabei», holte der Präsident aus. In seinem Alter würde gewisse Dinge sehr klar. «Ich kenne die amerikanische Geschichte.» Er habe immer wieder den Kampf zwischen den Kräften erlebt, die Amerika in die Vergangenheit zurück bringen wollen, und den Kräften, die Amerika in die Zukunft führen möchten. Sein Leben habe ihn gelehrt, für Freiheit und Demokratie, Ehrlichkeit und Respekt einzustehen und Hass keine Chance zu geben. «Andere Leute in meinem Alter sehen das anders», spielte Biden auf Trump an. «Die amerikanische Story des Hasses, der Ressentiments und der Rache.»
Es gehe nicht darum, wie alt man ist, sondern wie alt die eigenen Ideen sind. «Man kann Amerika nicht mit uralten Ideen führen.»
Unabhängig vom Inhalt seiner Worte, wirkte Biden wach und kämpferisch. Und man fragt sich, warum er sich nicht öfters so angriffig präsentiert. Ob diese Rede nun der erhoffte Wendepunkt für seine tiefen Zustimmungswerte ist, muss sich zeigen. Sollte er die Wahl im November verlieren, kann es indes nicht an diesem Auftritt gelegen haben.