Der Sinologe Cheng Chaoting gewährt erstaunliche Einblicke in die Strategie Chinas im Umgang mit dem Rivalen USA.
Herr Cheng, Trump hat gute Chancen auf eine Wiederwahl im November. Wie blickt China auf die Präsidentschaftswahl in den USA – voller Sorge oder voller Hoffnung?
Die chinesische Regierung hat sich dazu noch nicht klar geäussert. Unter Experten und Forschenden ist man sich aber weitgehend einig. Trump ist unberechenbar. Ihm ist jedes Mittel recht, um seine Ziele zu erreichen. Biden hingegen ist rationaler, was ihn vorhersehbarer macht. Biden betont auch die universellen Werte. In den Worten des einflussreichen Professors für internationale Beziehungen an der Renmin-Universität Jin Canrong: Trump ist ein wahrer Bösewicht, und Biden ist ein Heuchler.
Was ist damit gemeint?
Aus chinesischer Sicht sind Bidens werteorientierte Politik und seine Losung «Demokratien contra Autokratien» Ausreden, um die geopolitische Strategie der USA gegen China zu rechtfertigen. Deswegen nennt man ihn einen Heuchler. Trump hingegen hat kein Interesse an Ideologie. Er dürfte eine noch radikalere Anti-China-Politik verfolgen, insbesondere im wirtschaftlichen Bereich. Er hat bereits wieder hohe Strafzölle angekündigt auf chinesische Waren. Er will sogar amerikanische Investitionen in China ausbremsen und harte Sanktionen gegen China verhängen. Trump könnte der chinesischen Wirtschaft weiteren Schaden zufügen und die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zwischen den beiden Ländern vollkommen zurücksetzen.
Trump hat bei den Chinesen allerdings auch den Ruf, dass seine Politik China mehr nützt als schadet. Was ist da dran?
Damit ist gemeint, dass Trumps Anti-China-Politik den chinesischen Zusammenhalt gefördert hat und dass seine Präsidentschaft auch Chancen bot für China. Trump hat während seiner Amtszeit eine isolationistische Aussenpolitik verfolgt, was gut für China war. China hat dadurch mehr Diskursmacht auf der globalen Bühne erlangt.
Wer ist gefährlicher für China? Trump oder Biden?
Für die Kommunistische Partei Chinas ist Biden gefährlicher als Trump, weil Biden auf universelle Werte setzt, Trump hingegen auf nackte Interessen. Unterschiedliche Wertvorstellungen lösen tiefgreifende ideologische Konflikte aus. Interessen sind verhandelbar.
Zur Person
Cheng Chaoting
Der Sinologe Cheng Chaoting hat eine jahrzehntelange Karriere im Technologiesektor hinter sich. Unter anderem hat er in verschiedenen Ländern für den Telekom-Riesen Huawei als Manager gearbeitet. Ab 2015 widmete er sich ganz seinem Forschungsinteresse: Strategie und Geopolitik mit Schwerpunkt China. Derzeit forscht er an der Freien Universität Berlin, wo er am Institut für Sinologie doktoriert, zu Chinas neuer Seidenstrasse. Daneben ist er regelmässiger Kolumnist für die chinesische Ausgabe der «Financial Times» und für die «Berliner Zeitung».
Chinas USA-Politik scheint oft widersprüchlich. Phasen der verbalen Konfrontation wechseln sich mit Beteuerungen ab, wie wichtig konstruktive Zusammenarbeit sei. Was ist eigentlich Chinas strategische Priorität im Umgang mit den USA?
Chinas höchster Aussenpolitiker Wang Yi hat vor zwei Jahren im Grossmachtkonflikt mit den USA drei rote Linien gezogen. Das war für mich der bisher genauste und deutlichste Einblick in Chinas strategische Ziele im Umgang mit den USA. Wang Yi sagte: Erstens, die USA müssten das sozialistische System chinesischer Prägung respektieren. Zweitens, die USA dürften Chinas Entwicklung nicht behindern. Drittens, die USA müssten Chinas nationale Souveränität und territoriale Integrität respektieren. Der erste Punkt ist der wichtigste. Dabei geht es eigentlich um die Herrschaft der Kommunistischen Partei Chinas. In anderen Worten: China will unbedingt verhindern, dass die USA die Machtposition der Kommunistischen Partei Chinas in irgendeiner Weise unterwandern.
Die Partei setzt alles daran, ihre Herrschaft zu sichern. Ist das auch der Grund, warum China einen offenen Konflikt mit den USA verhindern will?
China ist den USA militärisch unterlegen, deshalb versucht die Führung, eine direkte Konfrontation mit den USA zu vermeiden. Es gibt weitaus bessere und weniger riskante Wege für China, seine globale Macht auszubauen. So ist China zum Beispiel auf wirtschaftliche Strategien ausgewichen, nämlich die neue Seidenstrasseninitiative, um seine politischen Ziele zu erreichen.
Gegenwärtig sind die USA bei zwei Kriegen engagiert. Sie liefern Waffen an die Ukraine und an Israel, während sich China vordergründig zurückhält. Was heisst das für Chinas Stellung in der Welt?
Aus strategischer Sicht sind die Kriege eigentlich zugunsten Chinas. Sie lenken die Aufmerksamkeit und die Ressourcen der USA weg von China, obwohl die USA ihren strategischen Fokus in den indopazifischen Raum verlagern wollen, um mit aller Macht gegen China vorzugehen. Deswegen hat China den russischen Angriff auf die Ukraine nie kritisiert und stützt Russland zumindest wirtschaftlich den Rücken.
Aber gleichzeitig untergräbt Xi Jinpings offen deklarierte Freundschaft mit Putin doch Chinas Annäherungsversuche gegenüber Europa?
Chinas Parteiführer sind sich dieses Widerspruchs sehr wohl bewusst. Sie wollen europäische Autonomie gegenüber den USA fördern und brauchen den europäischen Markt und europäische Technologie. Gleichzeitig sehen sie, dass europäische Länder sich an Chinas Unterstützung Russlands stossen. Aber das Hauptproblem für Chinas Regierung ist nicht die europäische Wahrnehmung, sondern die amerikanische Feindseligkeit, die Chinas Sicherheitslage bedroht. Um dieser Feindseligkeit etwas entgegensetzen zu können, braucht China einen mächtigen Verbündeten. In den Augen Chinas ist Russland zwar wirtschaftlich geschwächt, aber aus militärischer Sicht immer noch eine gewaltige Grossmacht mit einem Atomwaffenarsenal, so gross wie jenes der USA.
Sind die USA aus Sicht der chinesischen Führung so stark abgelenkt, dass sich eine Gelegenheit böte, Taiwan anzugreifen?
Taiwan mit dem Mutterland zu vereinen, ist ein klares Ziel der chinesischen Führung. Die Frage ist: Wann, wie – und wie hoch sind die Kosten? In der Vergangenheit war Chinas Regierung sehr optimistisch. Sie dachten, es sei ein Leichtes, Taiwan einzunehmen. Doch Russlands Scheitern daran, seine Ziele in der Ukraine rasch zu erreichen, hat den Führern in Peking einige Kopfschmerzen bereitet. Sie haben gelernt, dass es für Chinas Militär sehr schwierig sein könnte, Taiwan zu besetzen. Ich glaube, Chinas Führung ist in der Taiwan-Frage sehr, sehr vorsichtig geworden.
Alleine wegen des Kriegs in der Ukraine?
Nicht nur. Die Menschen in China sind sich in der Taiwan-Frage uneinig. Viele wollen keinen Krieg gegen Taiwan führen. Auch in der Partei nicht. Es besteht das Risiko von internen Machtkämpfen.
Als Putin die Ukraine angriff, waren viele Beobachter überrascht. Sie sagten, er sei verrückt geworden, handle nicht rational. Wäre es nicht weise, auch bei Xi Jinping mit allem zu rechnen?
Ich möchte Ihnen bezüglich der Rationalität widersprechen. Der amerikanische Politologe John Mearsheimer kam zu dem Schluss: Putins Invasion der Ukraine war rational. Laut Mearsheimer hat Putin seinen Entscheid aufgrund der Theorie, dass die Osterweiterung der Nato den strategischen Raum Russlands einenge, getroffen. Sein Entscheid entsprach dem Konsens der russischen Führungselite. Das heisst nicht, dass der Krieg Putins gegen die Ukraine richtig ist.
Damit wollen Sie mir sagen, falls China Taiwan angreift, wird das ebenfalls ein rationaler Entscheid sein.
Ja. China hat das Antisezessionsgesetz bereits 2005 verabschiedet. Ein Krieg gegen die Unabhängigkeit Taiwans hat also eine rechtliche Grundlage. Der Entscheid zum Krieg würde nicht aus einer Laune von Xi Jinping heraus getroffen werden, sondern muss dem Konsens der herrschenden Elite und der breiten Öffentlichkeit entsprechen. Doch auch ein rationaler Krieg kann scheitern. Die Folgen wären gravierend.
Was, wenn China einen Krieg um Taiwan verliert?
Das könnte für die Kommunistische Partei Chinas sehr gefährlich werden, da eine Niederlage mit Sicherheit zu politischer Instabilität oder sogar zum Verlust der Macht führen wird. Deshalb glaube ich nicht, dass Taiwan für die Parteiführung höchste Priorität hat. Die höchste Priorität hat die Herrschaft der Partei. Sie wird nicht riskieren, diese im Kampf um eine Insel aufs Spiel zu setzen.