Seit mehr als fünfzehn Jahren terrorisieren Boko-Haram-Mitglieder die Bevölkerung im Nordosten Nigerias. Inzwischen gibt es erfolgreiche Aussteigerprogramme der lokalen Behörden. Trotzdem gewinnt die Miliz stets neue Mitglieder.
Die Wut in der Stimme von Abdu Kasim ist noch heute hörbar, obwohl das Unrecht, das ihm widerfahren ist, schon über zwölf Jahre her ist. Der Zoll, so erzählt er, habe damals seinen Lastwagen beschlagnahmt, dabei sei er nur innerhalb von Nigeria unterwegs gewesen. Vergeblich habe er sein Fahrzeug, seine Lebensgrundlage, zurückzubekommen versucht. Schliesslich habe er gehört, dass der Zoll den Lastwagen für umgerechnet knapp tausend Franken versteigert habe.
Das machte ihn so wütend, dass der heute 42-jährige Familienvater, dessen Name zu seinem Schutz von der Redaktion geändert wurde, sich der Terrorgruppe Boko Haram anschloss. «Ich wollte mich an der korrupten Regierung rächen und ihr grösstmöglichen Schaden zufügen.» Neun Jahre lang kämpfte er im Namen der extremistischen Miliz, bevor er vor rund drei Jahren wieder ausstieg.
Boko Haram terrorisiert Nordnigeria seit mehr als 15 Jahren
Was Kasim erzählt, ist nicht zu überprüfen, plausibel ist es im nigerianischen Kontext durchaus. Vor fünfzehn Jahren begann Boko Haram, die Bevölkerung im Nordosten Nigerias – angeblich im Namen des Islams – zu terrorisieren und gegen die nigerianische Armee und den Staat zu kämpfen. Nach Schätzungen des Global Centre for the Responsibility to Protect wurden allein zwischen 2009 und 2020 mehr als 35 000 Menschen bei Anschlägen der Miliz getötet. Tausende wurden vergewaltigt und schwer verletzt, körperlich und psychisch. Hunderte von Frauen und Kindern wurden entführt.
Kasims Angaben über seine Motivation passen zu den Ergebnissen einer Studie, die das Uno-Entwicklungsprogramm UNDP Anfang 2023 mit dem Titel «Der Weg in den Extremismus in Afrika: Wege der Rekrutierung und des Ausstiegs» veröffentlichte. Rund die Hälfte der 2200 für die Studie Interviewten waren aus einer extremistischen Gruppe ausgestiegen, unter ihnen Zwangsrekrutierte und solche, die sich der Miliz freiwillig angeschlossen hatten.
Fast die Hälfte von ihnen gaben an, sie hätten sich nach einem Schlüsselerlebnis radikalisiert und der extremistischen Gruppe angeschlossen. Für gut 70 Prozent von ihnen bestand das auslösende Erlebnis in schweren Menschenrechtsverletzungen durch Vertreter der Regierung oder der Armee. Besonders häufig: die Tötung oder Verhaftung eines Familienmitglieds oder von Freunden.
«Staatliche Massnahmen, die mit einem starken Anstieg von Menschenrechtsverletzungen einhergehen», scheinen demnach «der wichtigste Faktor zu sein, der Einzelpersonen in Afrika in gewalttätige, extremistische Gruppen treibt». Dagegen hätten nur 17 Prozent der Befragten ihre religiöse Überzeugung als wichtige Motivation für den Anschluss an die gewaltbereite Miliz benannt.
Aus wirtschaftlicher Not radikalisiert
Auch Abdalla Ali Gombo interessierte sich anfangs nicht für die Ideologie der radikalen Gruppe. Ihn habe wirtschaftliche Not zu Boko Haram getrieben. Vor zwei Jahren floh er aus der Miliz, vorher war er acht Jahre lang einer ihrer Kämpfer gewesen. Die Folgen des Klimawandels waren gemäss seiner Aussage der Grund für die Verarmung seiner Familie, die vom Ertrag ihrer Felder zu leben versuchte. «Wir haben Sorghum, Mais und Bohnen angebaut.» Aber der Regen sei immer häufiger ausgeblieben. «In anderen Jahren haben Überschwemmungen unsere Ernten zerstört», erzählt Gombo. Der Wechsel zwischen Wetterextremen ist eine Folge der Klimakrise.
Im Rahmen der UNDP-Studie sagten ein Viertel aller männlichen Befragten, sie hätten sich der extremistischen Gruppe in der Hoffnung auf Arbeitsmöglichkeiten angeschlossen. Gewaltbereite Milizen werben oft damit, ihren Mitgliedern eine Art Sold zu zahlen. Laut vielen Berichten wird das in dieser Form häufig nicht eingelöst.
Kasim, dessen Lastwagen beschlagnahmt worden war, liess sich innerhalb der Terrorgruppe nach einer militärischen Grundausbildung zum Sprengstoffexperten ausbilden, «um so viel Zerstörung wie möglich anrichten zu können». Dass er in seinem Kampf gegen Armee und Regierung auch viele Zivilisten traf, kümmerte ihn in den ersten Jahren nicht: Nach Lesart von Boko Haram handelte es sich um «Ungläubige», obwohl die Bevölkerung im Nordosten Nigerias ganz überwiegend muslimisch ist. Dass sie den strengen Regeln der Gruppe nicht folgen und nicht gegen die Regierung kämpfen, machte sie für Kasim und seine Mitstreiter zu vermeintlich legitimen Opfern.
Doch mit der Zeit kamen Kasim Zweifel daran, dass die hohe Zahl der zivilen Opfer mit dem wahren Islam zu vereinbaren sei. «Wir konnten das Elend jener immer weniger übersehen, die vor unserer Gewalt aus ihren Dörfern fliehen mussten: Frauen und Kinder, die nach ihrer Flucht nichts zu essen und keinen Platz zum Schlafen haben.» Als er 2021 von einem Amnestieprogramm der Regierung seines Gliedstaates hörte, entschloss sich Kasim zum Ausstieg. Auch Gombo wurde immer stärker von Schuldgefühlen gequält, als er noch bei der Miliz war. Aber er fürchtete das nigerianische Militär. Die Aussicht auf Amnestie machte ihm den Ausstieg möglich.
Lokalregierung bietet Aussteigerprogramm an
Die Regierung des Gliedstaats Borno, des Epizentrums der Boko-Haram-Gewalt, macht den Mitgliedern der Terrorgruppe die Rückkehr in das zivile Leben seit Juli 2021 so einfach wie möglich: Sie hat ein Aussteigerprogramm eingeführt, das ehemaligen Mitgliedern Straffreiheit verspricht, wenn sie sich von der Gruppe lossagen, ihre Waffen oder den Sprengstoff abgeben, ein Deradikalisierungsprogramm durchlaufen und ins zivile Leben zurückkehren. Psychologische Unterstützung gehört nicht zum Angebot, dafür aber eine finanzielle Starthilfe für den Neuanfang im zivilen Leben.
Nach Angaben der Regierung von Borno haben sich bis Ende November 2023 knapp 7000 Kämpferinnen und Kämpfer ergeben. Die Sicherheitslage in Borno und vor allem der Hauptstadt Maiduguri hat sich drastisch verbessert, seit das Aussteigerprogramm im Juli 2021 begann. Wobei die Gruppe weiter rekrutiert, aber offenbar ist die Zahl der Aussteiger derzeit höher als die Zahl derer, die sich der radikalen Miliz anschliessen.
Der Erfolg des Programms passt zu den Beobachtungen der Uno-Studie. Das rein militärische Vorgehen gegen Boko Haram sei in den vergangenen Jahren deutlich an seine Grenzen gestossen, heisst es dort. Demgegenüber motivierten Amnestieprogramme viele Kämpferinnen und Kämpfer zum Ausstieg – wenn sie ohnehin schon an der Ideologie der Gruppe zweifelten oder von der Miliz enttäuscht waren.