Das Mini-Sechseläuten am Samstag bewies: Der Böögg macht das Wetter. Immerhin diese Gewissheit bleibt den Zünftern erhalten.
Durch die Plastikhäute der Regenschirme drückte längst das Regenwasser. Auch Socken, Unterhemden, Haare und Rucksäcke trieften. Wer seinen Fuss hob, verursachte ein schmatzendes Geräusch. Die Streulewiese hatte sich nach stundenlangen Regengüssen in einen einzigen Matsch verwandelt, einem Schlachtfeld ähnlich. Ein kalter Wind blies durch Heiden im Appenzellerland.
Wärme spendete inmitten dieser garstigen Bedingungen nur einer: der brennende Böögg. Gleichmütig blickte er in den trüben Himmel und nahm sich mit dem Explodieren so seine Zeit.
Die Leute froren, sie wollten heim
Der Böögg bewies eine Geduld, die ihm von den mehreren tausend Schaulustigen niemand so richtig gönnen mochte. Nach 10 Minuten maulten die Ersten. Die Leute froren, sie wollten heim. Oder wenigstens in die Wärme eines Festzelts.
Nach einer Viertelstunde knallte es einmal kräftig. Ein grosses «Oho» machte die Runde. Für einen Augenblick war die Spannung wieder da. Doch dann wurde es ruhig im Volk. Es war die Ruhe der Enttäuschung, die sich breitmachte. Als 20 Minuten um waren, fiel manche ärgerliche Bemerkung: Schon wieder Komplikationen mit diesem Sechseläuten.
Es war fürwahr ein kapriziöser Böögg, der da auf dem Scheiterhaufen stand.
Für ein paar Stunden herrschte Glückseligkeit
Sieben Stunden zuvor hatte die Welt im Appenzellerland noch anders ausgesehen. Die Sonne schien und liess den Zürcher Schneemann im allerbesten Licht erstrahlen. Das Panorama mit dem glitzernden Bodensee im Hintergrund gab ein perfektes Postkartensujet ab.
Entsprechend gut war der Böögg-Bauer Lukas Meier zur Mittagszeit gelaunt. «Es war mir ein Vergnügen, mit einer solchen Aussicht arbeiten zu dürfen», sagte er.
Dank der Unterstützung der Gastgeber des «Böögg-Aazöndens» habe sich der zusätzliche Aufwand in Grenzen gehalten, sagte Meier. Der neun Meter hohe Scheiterhaufen stand sogar schon seit Freitag. Fachleute von Grün Stadt Zürich waren eigens angereist, um das Holz aufzuschichten – freiwillig, wie eine Sprecherin des städtischen Tiefbaudepartements betonte. Die Holzbündel waren Überbleibsel des Sechseläutens vom 15. April in Zürich. Genau wie der Böögg.
Während die Unwetter im ganzen Land mehrere Hänge ins Rutschen brachten, Brücken beschädigten und sogar eine Autobahn zerstörten, war das idyllische Heiden für ein paar Stunden eine Insel der Glückseligkeit. Die Gemeinde hat eine ständige Wohnbevölkerung von etwas mehr als 4000 Personen. Für den Samstag rechnete man aber mit bis zu 5000 Gästen aus Zürich und der ganzen Schweiz.
Die Böögg-Verbrennung versprach ein gigantisches, ausgelassenes Fest zu werden. Die Zahl der Gäste stieg und stieg, der Erlebnishunger wurde grösser. Zum Glück boten zahlreiche Grillstände herzhafte Schüblige feil. Das Bier stammte zwar aus dem nahe gelegenen Kanton Innerrhoden, doch diese Kleinigkeit tat seiner Beliebtheit keinen Abbruch. Die Ausgangslage hätte besser nicht sein können.
Der Gastgeber tippte am genauesten
Aber Heiden liegt bloss im Kanton Appenzell Ausserrhoden und somit nur beinahe im Paradies. Wie im Rest des Landes wurden auch hier die Radarbilder mit den Regenprognosen von Stunde zu Stunde dunkler. Von Südwesten her waren finstere Wolken im Anflug. Wer erst noch mit der Sonnencrème zugange gewesen war, kramte schon bald eine Jacke aus dem Rucksack.
Als hätte es noch weiterer Beweise bedurft, verdeutlichte dieser Samstag erneut: Der Böögg macht das Wetter. Verzögert sich das Explodieren seines Kopfes, bleibt der Sommer von Zürich so fern wie das Mittelalter von der Gegenwart.
Um 15 Uhr jedenfalls, genau in jenem Augenblick, da die historischen Landjäger der Kantonspolizei Zürich ihre Salutschüsse abgeben sollten, brachen die ersten Wolken. Im Handumdrehen verwandelten sich die Strassen von Heiden in ein Meer von farbigen Pelerinen, Mützen und Schirmen. Und das Wasser lief in Sturzbächen über den Asphalt.
Trotz alledem gaben sich die prominentesten Akteure des Tages optimistisch. Die Zürcher Regierungspräsidentin Natalie Rickli (SVP), der Ausserrhoder Landammann Yves Noël Balmer (SP) und Felix Boller, der Präsident des Zentralkomitees der Zünfte Zürichs, erteilten die Erlaubnis für die Salutschüsse. Damit war der Festakt offiziell eröffnet.
Im Gespräch mit den Medien weissagte Natalie Rickli wenig später, dass der Böögg binnen 7 Minuten und 20 Sekunden abbrennen würde. Mit einem Lächeln gab sie zu verstehen, dass es sich bei diesem Tipp eher um Wunschdenken handelte als um eine realistische Einschätzung. Rickli sagte: «Der Sommer hat schlecht genug begonnen. Ich wünsche mir, dass es jetzt endlich vorwärtsgeht.»
Ricklis Ausserrhoder Pendant, Yves Noël Balmer, tippte etwas realistischer auf «ungefähr 20 Minuten». Felix H. Boller dagegen hatte sich mit seiner Schätzung ziemlich aus dem Fenster gelehnt: 5 Minuten und 32 Sekunden. Aber was machte es schon, dass er offensichtlich weit danebenliegen würde? Es gab etwas zu lachen, und das war bei dieser Witterung schon viel.
Als der Kopf abfiel, war der Leib längst zerfetzt
Die Ausserrhoder erwiesen sich als unkomplizierte Gastgeber. Den Regen überliessen sie sich selbst und trugen stattdessen ihre gute Laune in die Festzelte. Dort liess es sich ebenso fröhlich feiern wie bei schönem Wetter unter freiem Himmel. Man musste nur etwas näher zusammenstehen.
So wurde fleissig gewitzelt, um die Zeit zu überbrücken. Musikgruppen aus unterschiedlichen Stilrichtungen spielten traditionelle Appenzellerstücke, aber auch Moderneres. Nur einer liess sich davon nicht beeindrucken und blieb stur da stehen, wo man ihn gelassen hatte: der Böögg.
Also begab sich die Festgesellschaft gegen 18 Uhr doch wieder ins Regenwetter. Nach dem sechsten Schlag der Turmuhr von Heiden setzten Rickli, Balmer und Boller den Scheiterhaufen mit grossen Fackeln in Brand. Das Warten begann.
Nach gut 28 Minuten fiel der Kopf des Schneemanns in den Matsch der Wiese. Sein Leib war zu jenem Zeitpunkt längst zerfetzt und in Staub und Asche verwandelt. Es war verrückt – als wären wir verdammt, in diesem Jahr gänzlich ohne Sommer auszukommen.
Doch dann, als keiner mehr hinsah und der Kopf im Gras auch nicht mehr zu sehen war, ging ein ohrenbetäubender Knall über das Appenzellerland: Der Böög war Geschichte geworden. Endlich.
Was diese letzte Kapriole für den Sommer 2024 heissen könnte, brachte der Böögg-Bauer Lukas Meier am schönsten auf den Punkt, als er sagte: «Jetzt ist es Zeit für einen neuen Böögg.» Will heissen: Zeit für ein neues Jahr und einen neuen Anlauf mit dem Sommer.