Behinderte werfen der IV vor, dass sie bei den Hilfsmitteln allzu knausrig sei. Und dass die Versicherung einer Integration in der Schule und im Job im Weg stehe.
Bevor sie der Schicksalsschlag traf, war Isabelle Danioth sehr aktiv. Die Innerschweizerin joggte, wanderte, fuhr Velo, machte Fitness. Dann holte sie sich eine Verletzung am Kreuzband. Das Knie entzündete sich, das Bindegewebe vermehrte sich übermässig (Arthrofibrose), das Gelenk wurde immer steifer. Danioth konnte ab 2017 nur noch mit Krücken laufen. Mit den Jahren verschlechterte sich die Situation so sehr, dass im Februar 2023 eine Amputation nötig wurde.
Den Kampf um ihren rechten Unterschenkel verlor Isabelle Danioth. Ihr Kampf mit der Invalidenversicherung (IV) begann damit jedoch erst.
Kurze Sprints dank der Prothese
Bei einem Spezialisten für Orthopädietechnik empfahl man Danioth eine Hightech-Prothese namens Genium X3. Diese war in Zusammenarbeit mit dem US-Militär entwickelt worden und würde Danioth vieles ermöglichen, was andere Prothesen nicht schaffen: Sie könnte damit schwimmen gehen, relativ einfach Treppen steigen und schnell das Tempo wechseln. Sogar kurze Sprints sind laut dem Hersteller möglich.
Danioth konnte die Prothese ausprobieren und war begeistert. Sie fühlte sich auf unebenem Boden sicherer als mit anderen Produkten und hatte weniger Rückenschmerzen. Und sie ist überzeugt davon, dass sie die Genium-X3-Prothese auch für ihren neuen Beruf braucht: Die ehemalige Köchin, die diesen Job wegen der Kniebeschwerden schon vor der Amputation aufgeben musste, will Sozialarbeiterin werden. Im August hat sie ein Praktikum in einem Krienser Gefängnis begonnen.
Danioths Arzt Frank Klenke hält in einem Bericht fest, warum seine Patientin die Genium-X3-Prothese benötigt: Als Sozialarbeiterin werde sie Hausbesuche durchführen. Sie werde voraussichtlich mit Kindern oder einem Therapiehund arbeiten. Dies erfordere «unbedingt» eine Prothese, die rasche Bewegungsänderungen ermögliche.
Doch die für Danioth zuständige IV-Stelle Obwalden sieht das anders. Im Juli 2023 lehnte sie die Kostenübernahme ab. Eine Genium-X3-Prothese könne nur in Ausnahmefällen für den Eingliederungszweck übernommen werden. Für eine Tätigkeit als Sozialarbeiterin sei diese Art von Prothese nicht «einfach und zweckmässig». Dieses Kriterium hat das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) definiert. In einem Kreisschreiben von 2006 hält es fest: Die versicherte Person habe «keinen Anspruch auf die im Einzelfall bestmögliche Versorgung».
Das Genium-X3 gilt als eine der besten Prothesen auf dem Markt – doch das Hightech-Gerät hat auch seinen Preis.
Die einfachere Prothese wäre viel günstiger
Im Februar schrieb die IV-Stelle erneut, die Offerte sei nicht «einfach und zweckmässig», gab aber ein Assessment mit «verschiedenen Prothesenversorgungen» in Auftrag. Dieses läuft immer noch – und so hat Isabelle Danioth die Hoffnung nicht aufgegeben. Ein Problem sind offensichtlich die hohen Kosten von gut 60 000 Franken für die Hightech-Prothese. Die IV möchte lediglich eine Prothese bezahlen, die etwa halb so teuer ist, aber auch deutlich weniger Funktionen hat.
Danioth ist frustriert darüber, wie harzig der Prozess verläuft. «Man unterstellt mir, dass ich auf eine Luxuslösung poche, aber darum geht es mir nicht.» Sie wolle nicht für den Rest ihres Lebens von einer IV-Rente leben müssen, sondern voll im Berufsleben aktiv sein, sagt die 30-Jährige. «Doch das System erschwert mir dies.»
Auch der FDP-Nationalrat Andri Silberschmidt kritisiert, dass der Bund bei den Falschen spare. «Kurzfristige Kostenoptimierung führt längerfristig zu höheren Kosten, die vermieden werden können», sagt der Zürcher. Die IV solle die Menschen befähigen, ein möglichst selbständiges Leben zu führen, fordert er.
Silberschmidt berichtet von einem anderen Fall, der ihm bekannt ist. Es geht um einen pensionierten Mann, der im Rollstuhl sitzt und dem die IV den Ersatz seines kaputten Treppenlifts verwehrt hat. Dies mit der Begründung, dass der Lift ja in sein Home-Office führe, das er als Rentner nicht mehr benötige. «Solche Entscheidungen sind realitätsfern», sagt Silberschmidt.
«Stossende» Verhältnisse
Der heutige Präsident der Grünen, Balthasar Glättli, forderte in einem Vorstoss von 2016, dass die Sozialversicherungen die Kosten für «optimale» Hilfsmittel für Personen mit einer Behinderung übernehmen. Dass in der Schweiz den Personen, die in ihrem Alltag deutlich eingeschränkt seien, eine Verbesserung ihrer Lebensqualität einzig aus finanziellen Motiven verweigert werde, sei «stossend».
Der Bundesrat mahnte, die Solidarität der Gesamtheit gegenüber den versicherten Personen dürfe nicht überbeansprucht werden. Mit dem Einbezug von subjektiven Kriterien wie «Optimalität» wäre dies nicht mehr gewährleistet. Sprich: Die Betroffenen könnten Maximalforderungen stellen, und die Hersteller könnten höhere Preise verlangen. Der Nationalrat nahm Glättlis Motion 2018 deutlich an, ein Jahr später versenkte sie jedoch der Ständerat.
Daniel Zweifel ist Geschäftsführer des Orthopädieunternehmens Spiess und Kühne sowie Vizepräsident des Verbandes Ortho Reha Suisse (ORS), der rund hundert Betriebe vertritt. Er sagt, dass die Industrie gerade im Bereich der Prothesen immer bessere Produkte erfinde – so wie Genium X3. «Natürlich wollen unsere Kundinnen und Kunden die besten Hilfsmittel haben, die verfügbar sind. Daraus und aus den vorgeschriebenen ‹einfachen und zweckmässigen› Lösungen ergibt sich dann ein Spannungsfeld.»
Nur ein Bruchteil der IV-Ausgaben
Zweifel verweist auf Deutschland, dort sei gesetzlich eine «optimale» Versorgung garantiert. Er frage sich, warum so etwas in der reichen Schweiz nicht möglich sei. Zumal die Hilfsmittel wie Prothesen, Hörgeräte oder Rollstühle ein vergleichbar kleiner Posten seien. In der Tat machen sie mit jährlich zirka 200 Millionen Franken nur etwa 2 Prozent des Budgets der IV aus.
Für Ärger sorgt bei den Orthopädieunternehmen zudem, dass es – wie bei Isabelle Danioth – oft sehr lange dauert, bis der Bewilligungsprozess abgeschlossen ist. In mehr als der Hälfte aller Fälle werde die Frist von sechzig Tagen für eine Kostengutsprache nicht eingehalten, heisst es aus der Branche. Das bedeutet für die Dienstleister, dass sie lange auf die Bezahlung ihrer Rechnungen warten müssen.
Danioth ist nicht die einzige Betroffene, die die IV-Praktiken für mühsam und kleinlich hält – das zeigt sich gerade auch bei weniger teuren Hilfsmitteln, wie sie Livio Roth* braucht, der mit seinen Eltern in einem Dorf im Zürcher Weinland lebt. Er sei ein Bewegungsmensch, sagt seine Mutter Martina. Doch der Achtjährige hat ein Handicap: Wegen eines vorgeburtlichen Hirninfarkts leidet er an einer Muskelsteife.
Grosse Abnutzung bei den Schuhen
Um nicht dauernd zu stolpern, benötigt er eine Orthese. Dieses medizinische Hilfsmittel, das sein rechtes Bein stützt, bezahlt die IV anstandslos. Das Problem sind die Spezialschuhe, die Livio braucht, weil die Orthese seinen Fuss verbreitert. Laut der Hilfsmittelverordnung der IV haben Versicherte pro Jahr Anspruch auf zwei Paar orthopädische Spezialschuhe. «Das reicht vielleicht für ein Kind, das im Rollstuhl sitzt – aber niemals für einen Achtjährigen, der die ganze Zeit herumrennt», sagt Livios Mutter.
Es ist ihr wichtig, dass ihr Sohn trotz seiner Behinderung möglichst normal aufwachsen kann. «Er ist beim Schulsport begeistert dabei, auch wenn er immer Letzter wird.» Und auch in die Jugendriege des Turnvereins geht Livio. Seine Eltern stellten deshalb einen Antrag auf Kostenübernahme für einen dritten orthopädischen Schuh, einen Turnschuh.
In der ablehnenden Antwort der zuständigen IV-Stelle heisst es kurz: «Schuhe, welche für Freizeitaktivitäten (Schulsport eingeschlossen) benötigt werden, können nicht von der Invalidenversicherung übernommen werden.» Die Eltern sollen sich doch bei finanziellen Schwierigkeiten an Pro Infirmis oder an eine andere Beratungsstelle wenden.
Ein Paar Spezialschuhe für Livio kostet 500 Franken, das ist kein Klacks für seine Eltern.
«Das ist einfach nicht richtig»
Diese Antwort hat Livios Eltern geärgert. «Das ist einfach nicht richtig», sagt seine Mutter. Es müsse doch der IV klar sein, dass es für Livios Gesundheit langfristig das Beste sei, wenn er sich möglichst viel bewege. «Und er ist auch sozial viel besser integriert, wenn er ins Turnen und in die Jugi gehen kann.»
Es geht den Eltern ums Prinzip, aber nicht nur. Ein Spezialschuh kostet jeweils rund 500 Franken. «Das ist für uns kein Klacks, das können wir uns nicht einfach so leisten», sagt die Mutter. Ihr Mann habe einen einfachen Büezerlohn, sie könne wegen der Behinderung ihres Sohnes nur Teilzeit arbeiten. Und Livio hat auch noch drei Geschwister.
Auf Anfrage der NZZ verweist die zuständige IV-Stelle auf die Verordnung des Bundes, die keinerlei Handlungsspielraum lasse. Seit dem Besuch im Weinland sind einige Monate verstrichen. In der Zwischenzeit haben die Roths herausgefunden, dass sie einen Antrag stellen dürfen für einen dritten Spezialschuh pro Jahr, wenn ein Kind im Wachstum ist. «Doch auch das ist noch sehr knapp», sagt die Mutter.
Bestmögliche und modernste Lösung
Die Verantwortlichen im Bundesamt für Sozialversicherungen weisen den Vorwurf der Kleinlichkeit zurück. Das Wort «einfach» könne in Bezug auf die Hilfsmittel missverstanden werden, sagt Raphael Tschanz, Fachspezialist für Hilfsmittel. Das sei so zu verstehen, dass Hilfsmittelbestandteile, die keinen Einfluss auf das Eingliederungsziel hätten, sondern auf einem expliziten Kundenwunsch beruhten, von der IV nicht übernommen würden – etwa, wenn es nur um ästhetische Faktoren gehe. «In der Schweiz bekommen Betroffene von der IV aber die bestmögliche und modernste Lösung, wenn der Bedarf belegt und die Versorgung zweckmässig ist.»
Ob ein Hilfsmittel zweckmässig sei, müsse in jedem konkreten Fall abgeklärt werden. Wenn eine beinamputierte Person täglich nur ein paar Schritte in der eigenen Wohnung machen wolle, sei eine Beinprothese mit dem teuersten elektronischen Kniegelenk wohl eher nicht angezeigt, sagt Tschanz. Für einen Geologen, der häufig in steinigem Gelände unterwegs sei, hingegen möglicherweise schon.
Gerade bei elektronischen Arm- oder Beinprothesen stellt sich laut Tschanz zudem die Frage, ob eine Person körperlich und psychisch überhaupt in der Lage ist, ein solch komplexes Hilfsmittel zu steuern und dessen Funktionen zu nutzen. «Das braucht viel Disziplin und Übung. Wir wollen vermeiden, dass ein teures Hilfsmittel am Schluss in der Ecke landet.»
Dass IV-Klienten in manchen Fällen lange auf eine Kostengutsprache warten müssen, bestreitet Tschanz nicht. Das könne verschiedene Gründe haben und komme etwa vor, wenn eine Abklärung besonders komplex sei, wenn bei einer IV-Stelle ein personeller Engpass bestehe oder wenn Betroffene aus psychischen Gründen nicht in der Lage seien, sich der Abklärung zu stellen – etwa kurz nach einer Amputation. Ob die Prüfung der Gesuche wirklich in der Mehrheit der Fälle mehr als sechzig Tage dauert, wie das Vertreter der Branche behaupten, kann Tschanz weder bestätigen noch dementieren: Dem BSV lägen keine entsprechenden Statistiken vor.
In einem Communiqué vom Juni verspricht der Bundesrat, dass er im Rahmen einer nächsten IV-Revision die Grundlagen dafür schaffen wolle, dass die IV, aber auch die AHV den versicherten Personen «möglichst technologisch fortschrittliche und zweckmässige Hilfsmittel zur Verfügung stellen können».
* Namen von der Redaktion geändert.