Igor Girkin alias Strelkow war einst ein Aushängeschild der russischen Einmischung im Donbass. Der Kriegstreiber geriet jedoch in Konflikt mit dem Kreml und muss jetzt für vier Jahre ins Straflager.
Am Schluss blieb den Anhängern Igor Girkins nur noch das Gebet. Im Telegram-Kanal des Mannes, der besser unter seinem Kampfnamen Strelkow (abgeleitet von «Schütze») bekannt ist, veröffentlichten seine Anhänger eine Art Fürbitte um ein gerechtes Urteil. Im vergangenen Juli war der wortgewaltige russische Kriegstreiber in Untersuchungshaft gesetzt worden.
Am Donnerstag hat ihn das Moskauer Stadtgericht in einem für die Öffentlichkeit nicht zugänglichen Prozess zu vier Jahren Straflager verurteilt und damit des «Aufrufs zu extremistischer Tätigkeit» schuldig gesprochen. Anlass dafür gaben der Anklage zwei Veröffentlichungen auf Facebook. Aber das war nur ein Vorwand dafür, den immer lauter polternden Anführer besonders radikaler Nationalisten aus dem Verkehr zu ziehen.
Verurteilt wegen des MH17-Abschusses
Russische Gerichte haben seit Präsident Wladimir Putins Entscheidung zum grossen Krieg gegen die Ukraine schon Hunderte von Urteilen gefällt, die Publikationen in den sozialen Netzwerken zur Grundlage haben. Meist ging es um «Diskreditierung der russischen Streitkräfte» oder angeblich bewusste Desinformation («Fakes»), seltener um Extremismus. Die meisten Beschuldigten waren normale Bürger, auch wenn die Urteile gegen Journalisten, Oppositionspolitiker und Aktivistinnen die grössere Resonanz erzeugten. Kaum je aber hatte es jemanden getroffen, der Putins Ansinnen, die Ukraine zu zerschlagen, vehement unterstützte, erst recht nicht eine so prominente Figur wie Girkin.
Der 53-jährige ehemalige Geheimdienstoberst, der schon im früheren Jugoslawien und in Tschetschenien gekämpft hatte, ist das Symbol des sogenannten «russischen Frühlings» von 2014. Er hatte, wie er selbst später stolz zugab, beginnend mit der Krim, im Osten der Ukraine Unrast unter unzufriedenen russischsprachigen Ukrainern gesät und Gleichgesinnte aus Russland herangezogen. Mit ihnen besetzte er Städte und löste den Krieg in der Ostukraine aus.
Für einige Monate war er 2014 Verteidigungsminister der «Volksrepublik Donezk», bis er schon damals mit anderen Aufrührern und vor allem mit dem Kreml in Konflikt geriet und nach Moskau zurückkehrte. In seine Zeit im Donbass fiel der Abschuss des malaysischen Passagierflugzeugs, das unter der Flugnummer MH17 von Amsterdam nach Kuala Lumpur unterwegs war und über den Ostukraine von einer russischen Flugabwehrrakete getroffen wurde. Girkin wurde als einer der Hauptschuldigen im November 2022 in den Niederlanden zu lebenslänglicher Haft verurteilt.
Kultfigur ohne grossen Einfluss
Girkin wurde zwar zu einer Kultfigur der Ultranationalisten und einer Anlaufstelle für Veteranen der russischen Einmischung im Donbass. Er war aber auch aufsässig und für die offizielle Politik ein Ärgernis, weil er Putin der Halbherzigkeit vorwarf, sogar Verrat an den Ostukrainern. Er sah nicht ein, weshalb Putin nicht bereits 2014 die ganze Ukraine militärisch oder zumindest die gesamte Ostukraine unterwarf. Einfluss besass er jedoch kaum. Sein Ruf, seine Stellung unter den radikalen «Patrioten» und seine Verdienste für die «russische Welt» bewahrten ihn lange Zeit vor Unannehmlichkeiten.
Das änderte sich mit Putins umfassendem Krieg gegen die Ukraine, den er glühend unterstützte. Der Ukraine sprach er das Existenzrecht ab. Schnell gehörte er allerdings zu den lautesten Stimmen derjenigen Ultranationalisten, für die Russlands Kriegsführung nicht weit genug ging. Seine fast täglichen Analysen des Frontgeschehens waren auch für ideologische Gegner interessant, zumal er unerbittlich auf Fehler der russischen Armeeführung hinwies.
Der Versuch im Oktober 2022, selbst am Krieg teilzunehmen, endete in der ergebnislosen Rückkehr nach zwei Monaten; er sei dort nicht erwünscht gewesen, teilte er später mit. Je schwerer sich die Russen an der Front taten, desto schärfer wurde seine Kritik, auch an Putin.
Keine Geduld mehr mit Kritikern
Der Zusammenschluss Gleichgesinnter im sogenannten Klub der zornigen Patrioten und die Veröffentlichung eines Manifests im Frühling 2023, das mit der Kriegsführung abrechnete, dürfte das Fass zum Überlaufen gebracht haben. Als dann im Juni der Chef der paramilitärischen Gruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, gegen die Militärführung und indirekt gegen Putin rebellierte, schien es wohl den Sicherheitsbehörden ratsam, Girkin und seine Mitstreiter auszuschalten.
Als unbegründet erwies sich die Sorge, Girkins Festnahme könnte unter den Nationalisten zur Entfremdung vom Kreml, ja zu Protesten führen. Girkins Kreise erwiesen sich als enger und harmloser, als einige gedacht hatten. Am Donnerstag versammelten sich Dutzende von Anhängern von dem Gericht. Nur die 30-jährige Ehefrau, einige Angehörige und Geistliche wurden in den Sitzungssaal gelassen. Das Urteil gegen Girkin sei ein Schlag ins Gesicht der Frontsoldaten, meinte ein Anhänger gegenüber einem Telegram-Kanal. Nach der Urteilsverkündung begann die Polizei, Unterstützer des Verurteilten, die mit Plakaten gekommen waren, abzuführen. Es gibt keine Scheu mehr davor, sich mit Kriegsbefürwortern anzulegen.