Der Zorn der Landwirte richtet sich gegen Paris, Brüssel und die Auflagen gegen den Klimawandel. Vor den Europawahlen bemüht sich die französische Regierung, die Bauern zu beschwichtigen. Doch nicht alle Bauern haben die gleichen Interessen.
Der Gestank von Gülle und verbranntem Reifengummi dürfte den Sitz der Lokalregierung in Agen noch eine Weile umgeben. Die Bauern, die das Gebäude in der südfranzösischen Stadt vergangene Woche mit Gülle einsprühten und vor dem Tor einen grossen Misthaufen abluden, haben für ihren Protest inzwischen aber ein weiteres Ziel ins Auge gefasst: die Hauptstadt Paris.
Schon am Freitag blockierten die Landwirte mehrere Autobahnen rund um die Hauptstadt und campierten mit ihren Traktoren an Mautstationen. Zwar hoben sie die Barrikaden am Samstag kurzzeitig auf, nachdem die Regierung auf die Landwirte zugegangen war. Bereits für Montag kündigten die Bauerngewerkschaften aber neue Blockaden im Grossraum Paris an, weil ihre Forderungen nicht in vollem Umfang erfüllt worden seien.
Die Polizei schaut zu, die Regierung eilt zu Hilfe
An über sechzig Orten im ganzen Land hatten die Bauern zuvor schon tagelang ihrer Wut über sinkende Einnahmen, steigende Energiekosten und Steuern, Bürokratie und Umweltauflagen Ausdruck verliehen. Sie kippten Mist auf Fahrbahnen und vor Gebäude, leerten tonnenweise Gülle aus oder zündeten Reifen und Strohballen an. In Perpignan im Süden des Landes wurde ein leerstehendes Gebäude in Brand gesetzt, und in Carcassonne wurde ein Sprengstoffanschlag auf die regionale Umweltverwaltung verübt.
Die Polizei beobachtete die Proteste zumeist nur. Die Ordnungshüter, die sonst bei Demonstrationen nicht mit Gummischrot sparen, waren vom Innenministerium angewiesen worden, sich zurückzuhalten. Die französische Regierung will die Landwirte besänftigen. Premierminister Gabriel Attal kam den Demonstranten deshalb am Freitagabend entgegen. Umringt von Kühen auf einem Bauernhof im Süden des Landes präsentierte Attal Sofortmassnahmen zur Linderung der bäuerlichen Leiden:
- Sie umfassen 100 Millionen Euro Soforthilfen für Landwirte, die Unwetterschäden erlitten haben, deren Vieh vom EHD-Virus befallen ist oder die biologische Landwirtschaft betreiben. Auch die Winzer, die unter einem Rückgang des Weinkonsums leiden, sollen weiter Hilfen bekommen.
- Die Steuererhöhung auf Agrardiesel wird gekippt.
- Unlauterer Wettbewerb soll stärker geahndet werden. Detailhändler und die weiterverarbeitende Industrie sollen strenger bestraft werden, wenn sie den gesetzlich vorgeschriebenen Grundsatz des fairen Einkommens für Bauern nicht einhalten.
- Zehn Vorschriften oder bürokratische Prozesse werden umgehend vereinfacht.
In Brüssel will sich Frankreich ausserdem weiter gegen das Freihandelsabkommen der EU mit den südamerikanischen Mercosur-Staaten stellen. Gleichzeitig erinnerte Attal die Landwirte aber daran, dass Frankreich gerade im Landwirtschaftsbereich von der EU profitiere. Jährlich fliessen 9,3 Milliarden Euro Agrarsubventionen von Brüssel in das Land. Damit erhält Frankreich am meisten Geld aus dem Landwirtschaftstopf der EU. Das Land ist aber auch der grösste Agrarproduzent der Union.
Der französische Premierminister sagte den Bauern: «Wir haben beschlossen, die Landwirtschaft über alles andere zu stellen.» Das ist eine bemerkenswerte Aussage, da die Bauern inzwischen gerade einmal 3 Prozent der Beschäftigten im Land ausmachen und ihr Anteil an der Bruttowertschöpfung nur knapp 2 Prozent beträgt. Zum Vergleich: In Deutschland steuert die Landwirtschaft 1 Prozent zum Bruttoinlandprodukt bei, in der Schweiz 0,6 Prozent. Wirtschaftlich gesehen sind die Bauern in Frankreich also ähnlich unwichtig wie in Deutschland und der Schweiz.
Es geht um mehr als gutes Essen
Dennoch geniessen die Anliegen der 400 000 Bauern bei den restlichen 67 Millionen Franzosen traditionell grossen Rückhalt. Gemäss einer aktuellen Umfrage unterstützen rund 90 Prozent die derzeitigen Bauernproteste, ein Grossteil vertraut zudem den Landwirten und ihren Produkten.
Die Franzosen schätzen gute Lebensmittel, vor allem jene aus heimischer Produktion. Der Minister für Landwirtschaft, Marc Fesneau, ist deshalb auch offiziell für die «souveraineté alimentaire» zuständig. Hinzu kommt das traditionell verklärte Bild von den Bauern, das noch immer in der Bevölkerung vorherrscht. Es zeichnet die Landwirte als Verteidiger der Tradition und der französischen Kultur, die das Land so bewahren, wie es vermeintlich früher war; ganz ohne Globalisierung, Corona oder den Krieg in der Ukraine.
Die Bauern sind nicht nur kulturell wichtig, sie sind auch politisch mächtig. Rund 12 Prozent der Bürgermeister und über 3 Prozent der Regionalräte in Frankreich sind Bauern. Der Berufsstand ist auf der lokalen Ebene übervertreten. Grosse Agrarkonzerne verfügen aber auch in Paris über eine gut geölte Lobbymaschinerie und mit der Bank Crédit agricole auch über eine wichtige Kreditanstalt.
Ausserdem ist der wichtigste Bauernverband FNSEA bis ins Landwirtschaftsministerium gut vernetzt. Unterstützt wird die FNSEA von den «Jungen Bauern» (JA). Die beiden Gewerkschaften sind es auch, die derzeit den Protest anführen. Dabei müssen sie einen Bauernstand zusammenhalten, dessen Situationen und Interessen sich immer stärker unterscheiden. Denn nicht alle Bauern sind gleichermassen von den gegenwärtigen Wirtschafts- und Umweltproblemen betroffen.
Betrachtet man beispielsweise das durchschnittliche Nettoeinkommen eines Bauernhofs, der von der Schweinezucht lebt, betrug dieses im Jahr 2022 rund 124 000 Euro und damit mehr als das Sechsfache von dem, was ein Betrieb mit Schafen und Ziegen in dem Jahr einnahm. Im Durchschnitt beträgt das Nettoeinkommen eines Bauern in Frankreich rund 56 000 Euro.
Die Interessen und Probleme innerhalb des Berufsstandes sind entsprechend divers. Dem müssen die Bauernverbände Rechnung tragen, wollen sie ihre Mitglieder bei der Stange halten. Deshalb haben die Gewerkschaften der Regierung eine Liste von Forderungen zukommen lassen, die mehr als 120 Punkte enthält. Die ersten Hilfszusagen von Gabriel Attal tangieren nur einen Bruchteil. Das ist den Verbänden zu wenig. Sie kündigten deshalb schon kurz nach Attals Besuch im Stall an, die Proteste zum Wochenbeginn mit der «Belagerung» von Paris fortzusetzen.