Macron studierte hier, Hollande, Chirac und Mitterrand ebenso: Die Sciences Po ist die Eliteschmiede Frankreichs. Deshalb wühlt der Skandal um linke Aktivisten die Nation so auf.
«Lasst sie nicht rein, sie ist eine Zionistin»: Dieser Satz hat in Frankreich dafür gesorgt, dass eine neue Stufe erreicht wurde in einem Kulturkampf, der schon länger tobt. Es geht um «wokeism», «islamogauchisme» – und um Antisemitismus. Gegolten haben soll der Satz einer jüdischen Studentin der politikwissenschaftlichen Universität Sciences Po in Paris.
Letzte Woche versuchte die 19-Jährige, den zentralen Vorlesungssaal an der Sciences Po zu betreten. Es ist ein Raum mit einer bewegten Geschichte: 1968 besetzten ihn revolutionär Gesinnte, hielten dort ihre Generalversammlung ab und benannten den Saal in «Che Guevara» um. Jetzt sind es wieder linke Studenten, die sich dort breitmachen. Einige hundert Studenten versammelten sich letzten Dienstag anlässlich eines europäischen Tages der Solidarität mit Palästina. Ihre Kommilitonin «Rachel», wie sie in Medien genannt wird, wollten sie nicht teilnehmen lassen.
«Die Organisatoren, die maskiert waren, stellten sich mir in den Weg», erzählte «Rachel» der Zeitung «Le Parisien». Als Grund hätten die Maskierten ihr geantwortet: «Wir kennen dich.» Die Unileitung bestätigt den Vorfall und auch, dass dabei das Wort «Zionistin» gefallen sei. Sie hat eine genaue Untersuchung versprochen.
«Ne la laissez pas rentrer, c’est une sioniste»
Limite franchie à @sciencespo où le grand amphi est occupé. Les étudiants de l’UEJF y sont pris à partie comme juifs et sionistes.
Nous appelons à la levée immédiate du blocus et à des sanctions exemplaires contre ces étudiants. pic.twitter.com/mUi2b4P35y
— UEJF (@uejf) March 12, 2024
«Läppische Angelegenheit»
Die linksextremen Studenten rechtfertigten sich, die Anwesenheit von «Rachel» habe einige Teilnehmer alarmiert. Die Studentin ist Mitglied der Union jüdischer Studenten. Und sie sei, so die Aktivisten, bekannt für ihre Einschüchterungsversuche. «Rachel» stelle immer wieder Videos von Pro-Palästina-Aktivisten ins Netz, worauf diese zu Opfern von Cyberbelästigung würden. «Rachel» wurde nach einem kurzen verbalen Schlagabtausch dann doch in den Saal gelassen.
Viel Aufregung um nichts also? Diese Position vertritt der Links-aussen-Politiker Jean-Luc Mélenchon, der immer wieder mit Kritik an der israelischen Politik auffällt. Er spricht von einer «läppischen Angelegenheit». Doch das sehen die Vertreter der französischen Juden und Politiker von der Mitte bis rechts aussen komplett anders. Die Vorgänge an der Sciences Po sind längst zu einer Staatsaffäre geworden.
Präsident Emmanuel Macron nannte die Zionisten-Aussage «unerhört und völlig inakzeptabel». Sein Premierminister Gabriel Attal suchte am Folgetag sogar demonstrativ den Ort des Vorfalls auf und platzte unangekündigt in eine Versammlung von Professoren. Der Unileitung soll er dabei gesagt haben, der Fisch stinke vom Kopf. Ausserdem droht er mit der Einsetzung eines provisorischen Verwalters und hält es für nötig, die «Achtung der Werte der Republik und der Meinungsfreiheit» durchzusetzen.
Die Schule der Macht
Die Sciences Po ist nicht irgendeine Uni, sondern die Schule der Macht. Fast alle französischen Spitzenpolitiker und Staatspräsidenten haben hier studiert. Dazu gehören auch Macron und Attal. Was hier passiert, strahlt weit in die politische Öffentlichkeit und die Medien.
François Heilbronn weiss das bestens. Der geschäftsführende Partner einer Beratungsfirma hat selbst ein Diplom der Eliteuniversität und gibt dort seit 33 Jahren als assoziierter Professor Kurse. Heilbronn ist zudem Vizepräsident des Shoah-Denkmals in Paris und beschäftigt sich mit der Geschichte der Juden in Frankreich. Hitzige Debatten um den Nahen Osten habe es schon in den achtziger Jahren gegeben, erinnert er sich. «Während des Libanonkriegs 1982 kamen Genozidvorwürfe an Israel auf, manche verglichen die Belagerung Beiruts mit der Belagerung Warschaus.» Marxisten, Liberale, Konservative waren nicht gleicher Meinung. Aber sie sprachen miteinander.
Folgenreiche Umwälzungen bei den Linken
Seit etwa sieben Jahren sei das anders, sagt Heilbronn. «Für die extreme Linke geht es nicht mehr um die Debatte, sondern nur noch um die Konfrontation. Es ist Hass, es ist Gedankenpolizei.» Begonnen hat dies mit den Umwälzungen im linken Lager. Die Sozialisten waren eine reformorientierte, staatstragende Partei. Doch heute dominiert im linken Lager Mélenchons Partei La France insoumise (LFI, Unbeugsames Frankreich).
«Ihre Abgeordneten schreien herum, beleidigen und bedrohen andere Parlamentarier und Minister, sie respektieren niemanden», sagt Heilbronn. «Sie vertreten antisemitische Positionen, ohne sich dafür zu schämen. Und sie attackieren systematisch die französischen Juden, die mit Israel solidarisch sind.»
Die Studenten der Sciences Po, die LFI nahestehen, meinen laut Heilbronn, sie könnten sich gleich verhalten wie ihre politischen Vorbilder, angestachelt durch Leute wie Rima Hassan. Die Juristin mit syrisch-palästinensischen Wurzeln kandidiert bei den Europawahlen für LFI. Sie hält Israel für einen Apartheidstaat und erklärte auch bei einem Auftritt an der Sciences Po, Palästina müsse frei sein vom Jordan bis zum Mittelmeer – Israel würde damit von der Landkarte radiert.
Eine merkwürdige Allianz
Heilbronn sieht eine merkwürdige und gefährliche Allianz am Werk: Linksextreme und Islamisten. In Frankreich nennt man das Phänomen «islamogauchisme». Ging es den Marxisten einst um den Kampf der Klassen, wähnen sich die woken Linken in einem Kampf der «Rassen». Die Muslime – speziell die Palästinenser – gehören in diesem Weltbild zu den Unterdrückten, die unbedingte Unterstützung gegen die angeblichen weissen «Unterdrücker, Imperialisten und Kolonialisten» verdienten. «Und dazu sollen auch wir Juden zählen – wir, die immer eine verfolgte Minderheit waren!», echauffiert sich Heilbronn.
Das Vorgehen gegen die jüdische Studentin sei eindeutig ein Akt des Antisemitismus gewesen. Heilbronn weiss auch von einem Professor, der ein Foto von den Aktivisten vor dem Hörsaal gemacht habe, der in «Gaza» umbenannt worden war. «Zwei maskierte Militante forderten, dass er ihnen das Handy aushändige. Als er sich weigerte, haben sie ihn bis zur U-Bahn-Station verfolgt.»
Ein Video, das der jüdische Studentenverband verbreitete, zeigt, wie verhärtet die Fronten an der Sciences Po sind. Ein jüdischer Aktivist fordert propalästinensische Kommilitonen zu einer Schweigeminute für alle Opfer des Gaza-Konflikts auf, wird aber niedergeschrien. «From the river to the sea!», skandieren die Demonstranten und schwenken Palästina-Flaggen.
Nous appelions à une minute de silence pour toutes les victimes et à la libération des otages, leur réponse fut «Daria Palestine». Nous appelions à «2 peuples, 2 États», eux criaient «From the River to the Sea»
Malgré les menaces, nous ne nous taierons pas. pic.twitter.com/qLEg3UvF2l
— UEJF (@uejf) March 12, 2024
Eine radikale Minderheit
Es handle sich nur um eine kleine Minderheit, aber sie werde immer radikaler und gewalttätiger, sagt Heilbronn und fordert: «Wir müssen sie jetzt stoppen.» Sonst würde sie weiterhin ein Klima des Schreckens und der Einschüchterung schaffen, die Lehre beeinträchtigen und die Reputation der Universität beschädigen. Heilbronn verlangt, dass die Universität jene ausschliesst, die für die illegale Besetzung des Hörsaals und die Diskriminierung jüdischer Studenten verantwortlich sind. Den Rädelsführern drohen zudem juristische Konsequenzen.
Besorgt ist auch Jade Journée, Präsidentin der rechtsliberalen Républicains an der Sciences Po. Als Bürgerliche gehört die 22-Jährige aus Nizza zu einer Minderheit unter den Studenten. Seit dem Hamas-Terroranschlag vom 7. Oktober sei das politische Klima noch polarisierter geworden. «Die extreme Linke ist an der Universität sehr stark, sie monopolisiert die Debatte. Das gefährdet die freie Meinungsäusserung», sagt Journée. Die propalästinensische Fraktion wolle die Universität dazu drängen, sich im Nahostkonflikt zu positionieren. Das dürfe nicht passieren. «Auch wenn sich hier alles um die Politik dreht, muss die Sciences Po politisch neutral bleiben.»
Ein anderer Sciences-Po-Professor, der nicht namentlich genannt werden möchte, hält die Wokeismus-Vorwürfe für übertrieben. «Natürlich gibt es Polemiken, die der Gaza-Konflikt noch verschärft hat. Aber es herrscht nicht generell ein Klima der Intoleranz. Unter den Studierenden gibt es eine Vielfalt von Meinungen. Und abseits von radikalen Splittergruppen sind weiterhin engagierte Diskussionen möglich.»
Doch solche gemässigten Stimmen hört man in der emotionalen Debatte um die Sciences Po kaum. Der Rechtsextreme Éric Zemmour bezeichnete die ganze Universität als «ZAD islamogauchiste». ZAD steht für «zone à défendre», ein Begriff für Gebiete, die von Linksextremen illegal besetzt werden. Die Gegenseite schiesst ebenso scharf zurück. Die Studentenvereinigung von Mélenchons LFI an der Sciences Po wirft Macron und Attal in einem Communiqué vor, sie würden Lügen verbreiten und damit künstlich eine Polemik entfachen.
Freiheit der Unis in Gefahr?
Linke Kommentatoren, aber auch viele Professoren halten die Vorwürfe von Macron, Zemmour und Co. ohnehin für Teile eines grösseren Plans der Rechten, die «kritische» Wissenschaft zu schwächen. Vor diesem Hintergrund ist ein Schreiben vom Montag zu sehen, in dem eine Reihe von Institutsdirektoren und Dozenten gegen den unangekündigten Besuch von Premierminister Attal und dessen harsche Worte am vergangenen Mittwoch protestieren.
Kein Politiker dürfe sich das Recht anmassen, die Grundprinzipien der akademischen Unabhängigkeit und Freiheit abzuwerten, halten die Sciences-Po-Vertreter fest. Und weiter: «In einer liberalen Demokratie muss die Verteidigung der akademischen Freiheit absolute Priorität haben.»
Schon jetzt ist klar: Die Affäre wird in Paris ein Nachspiel haben – egal, wie lange die israelische Militäroperation gegen die Hamas dauert.