Bilder Olivier Donnars / Le Pictorium / Imago
Das Land zählt mit Flugzeugträgern, Nuklear-U-Booten und Raketensystemen zu den modernsten des Kontinents – und selbst bei den gefiederten Soldaten hält es als Einziges mit China mit. Ein Besuch bei den tierischen Helden der französischen Armee.
Im Juni 1916 tobt bei Verdun der blutigste Abnützungskampf des Ersten Weltkriegs. Schon seit vier Monaten ringen dort französische und deutsche Soldaten um jeden Quadratzentimeter. Schliesslich gelingt es den Deutschen, die strategisch wichtige Militäranlage Fort de Vaux einzukesseln und alle Kommunikationswege abzuschneiden.
Mitten im Bombenhagel und angesichts einer drohenden Giftgasattacke greift der französische Kommandant zu seiner letzten Ressource: der Brieftaube Le Vaillant. Der gefiederte Soldat soll die Nachricht von der prekären Lage hinter die feindlichen Linien bringen. Der am Bein des Vogels angebrachte Hilferuf endet mit den Worten: «Dies ist meine letzte Taube.»
Der Vogel startet auf dem Schlachtfeld, fliegt durch Gaswolken und Kugelhagel. Er erreicht sein Ziel, schwer verletzt. Zwar fällt die Festung an die Deutschen, doch über hundert Soldaten können evakuiert werden. Le Vaillants Nachricht hat ihr Leben gerettet. Die Taube, die an ihren Verletzungen stirbt, wird Jahre später mit dem Croix de Guerre für ihre Tapferkeit im Kampf geehrt werden.
Regelmässig schlüpft Nachschub für Frankreichs Armee
Heute steht die heldenhafte Brieftaube ausgestopft in einer Museumsvitrine der Festung Mont Valérien in Suresnes. Während Maréchal de Logis Sylvain die Heldengeschichte von Le Vaillant erzählt, gurren im Hintergrund ihre Nachfolger. In dieser historischen Militäranlage, nur wenige Zugminuten von Paris entfernt, sind über 150 Militärtauben der französischen Armee untergebracht. Frankreich, das sich dafür rühmt eine der modernsten Armeen Europas zu unterhalten, ist das letzte Land des Kontinents, das noch Brieftauben unterhält.
Den Vögeln stehen für ihre Ausflüge 26 Hektaren Grünfläche und sechs Taubenschläge mit Blick auf die Hauptstadt und den Eiffelturm zur Verfügung. «Es gibt schlechtere Arbeitsorte», sagt Sylvain und lächelt zufrieden. Seinen vollen Namen darf der Unteroffizier nicht preisgeben. Frankreich versucht Armeeangehörige und Polizisten seit den Terroranschlägen von 2015 so vor Übergriffen zu schützen.
Ursprünglich hatte sich der 43-Jährige als Drohnen-Operateur bei der Armee gemeldet, 2014 stiess er schliesslich zum Achten Fernmelderegiment des französischen Heeres. Dieses überwacht die Kommunikations- und Informationssysteme der Armee und stellt sicher, dass Nachrichten, Informationen und Befehle schnell und sicher übermittelt werden. Die Tauben des Mont Valérien gehören offiziell zum Regiment, sie werden aber hauptsächlich von Sylvain betreut.
Er wacht mit väterlichem Stolz über die Tiere. Viele hat der Enkel eines Taubenzüchters selbst aufgezogen. Auch an diesem Tag schlüpft Nachschub. Vorsichtig kontrolliert der Unteroffizier, ob die Vögelchen wohlauf sind, und redet ihren aufgeregten Eltern gut zu. Noch sind die Kleinen zwar nur fingerlang, in wenigen Monaten aber beginnt für sie bereits die Rekrutenschule.
«Wir starten mit kurzen Übungsflügen auf dem Gelände, dann entfernen wir uns immer weiter vom Taubenschlag», erklärt Sylvain. Je nach Trainingseinheit werden die Vögel dabei einzeln oder in Gruppen ausgesetzt und müssen den Weg nach Hause finden. So bilden die Jungvögel schrittweise die nötigen Muskeln aus und sammeln Flugerfahrung.
Der Unteroffizier zeigt auf die ausgewachsenen, aber etwas schlankeren Vögel im Schlag. Sie sehen auf den ersten Blick nicht anders aus als die Tauben, die sich in jeder Grossstadt zu Tausenden tummeln und gemeinhin einen schlechten Ruf geniessen. Doch diese Vögel seien anders, beteuert Sylvain: «Sie sind Sprinter und können auf einer Strecke von bis zu 100 Kilometern Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 120 Kilometern pro Stunde erreichen.»
Ihre kräftigeren Artgenossen im Schlag glänzen als Ausdauersportler und bewältigen mühelos Strecken von 1000 Kilometern. Der Rekord liegt jedoch weit höher: 1931 flog eine Taube von Ho-Chi-Minh-Stadt in Vietnam nach Arras in Frankreich und bewältigte 11 590 Kilometer in 24 Tagen.
Zuverlässig, zielgenau und kriegserprobt
Dass der Vogel dafür Tag und Nacht Wind und Wetter trotzte, zeigt, wie robust und ausdauernd die Tiere sind – und wie zielsicher sie den Weg zurück nach Hause finden. Als Zuhause dient ihnen stets der Geburts- und Futterplatz, den die Tiere selbst dann finden, wenn er mobil ist wie etwa ein verschiebbarer Taubenschlag.
Allerdings rätseln Forscher bis heute darüber, warum die Orientierungsfähigkeit von Tauben so aussergewöhnlich ist. Zwar gilt es als erwiesen, dass Tauben sich mithilfe optischer Landmarken, des Sonnenstands und des Erdmagnetfelds orientieren. Doch bleibt ungeklärt, wie die Tiere ihre genaue Position bestimmen, wenn sie an einem ihnen völlig fremden Ort ausgesetzt werden.
Schon in der Antike haben Menschen Tauben genutzt, um Informationen auszutauschen. Ihr militärischer Einsatz erlebte besonders im Ersten Weltkrieg seinen Höhepunkt: Rund 60 000 Vögel wurden auf den Schlachtfeldern als Boten eingesetzt, davon über 30 000 allein bei den französischen Streitkräften.
Im Zweiten Weltkrieg unterstützten die Engländer die französische Résistance mit fast 17 000 Tauben, die per Fallschirm abgeworfen oder in Manteltaschen, Rucksäcken und Körben nach Frankreich geschmuggelt wurden, um den Alliierten Informationen zu übermitteln. Hunderte Tauben begleiteten alliierte Landungstruppen in der Normandie, um unauffällig und vor allem abhörsicher wichtige Botschaften über feindliche Linien hinweg zu transportieren. Berühmt wurde unter anderem die Taube Gustav, die am D-Day die Nachricht über die erfolgreiche Landung der alliierten Truppen nach England brachte. Die Rohrpost an Gustavs Bein enthielt die Meldung eines Korrespondenten der Nachrichtenagentur Reuters, der die Landung in der Normandie miterlebt hatte.
Experimente als biologische Drohnen scheitern
Die Nachrichten wurden auf extrafeines Papier geschrieben. Denn die Tauben können nur etwa 400 Gramm problemlos transportieren, schwerere Lasten beeinträchtigen ihre Flugfähigkeit. Gleichwohl experimentierten Frankreich, Deutschland und die USA im und nach dem Zweiten Weltkrieg damit, den Tauben kleine Kameras für die Luftaufklärung umzuschnallen. Militärisch setzte sich die Idee nicht durch, da die Tiere vor allem ein Ziel zuverlässig ansteuern: ihren heimischen Taubenschlag. Dennoch erinnern Aufnahmen von Taubenkameras im Museum der Festung an die Versuche, die Vögel als biologische Drohnen einzusetzen.
Auf dem Mont Valérien finden sich auch Erinnerungsstücke aus der Schweiz wie Transportkörbe und Fusshülsen für die kostbaren Nachrichten. Hierzulande löste die Armee 1994 ihre Militärtaubenschläge auf und musterte dabei rund 30 000 gefiederte Soldaten aus. Der Entscheid sorgte landesweit für Diskussionen. Sogar eine Initiative wurde gestartet, die den Schutz der Brieftauben in der Verfassung verankern wollte, allerdings ohne Erfolg.
Frankreich entschied Ende der 1960er Jahre, die Tauben aus dem aktiven Militärdienst zu entlassen, die Tradition der Brieftaubenzucht sollte aber aufrechterhalten werden. Auch, um die historischen Verdienste der Vögel weiter zu ehren. Heute hält Sylvain seine Vögel vor allem für Wettkämpfe, Gedenkveranstaltungen und Schönheitswettbewerbe fit, die im ganzen Land stattfinden. Zwar wären sie weiterhin einsatzbereit: «Allerdings müssten dafür sämtliche Kommunikationssysteme der Armee gleichzeitig ausfallen», sagt Sylvain. Die moderne Technologie hat die gefiederten Soldaten inzwischen obsolet gemacht – zumindest in Europa.
Aus der Zeit gefallen? Nicht, wenn man nach China schaut
Der militärische Nutzen der Vögel rückte Anfang des Jahres ins Rampenlicht, als Indien eine vermeintlich chinesische Taube freiliess, die von der Polizei in Mumbai zuvor monatelang in einem Tierheim festgehalten worden war. Der Vogel war der Spionage verdächtigt worden. Was weltweit für Belustigung sorgte, ist nicht ganz so abwegig.
China kündigte bereits 2010 an, eine «Tauben-Reservearmee» aufzubauen, die im Kriegsfall die konventionelle Kommunikationsinfrastruktur der chinesischen Volksbefreiungsarmee (PLA) unterstützen solle, falls moderne Technologien ausfallen würden. Ausserdem würden die Militär-Tauben auch für «Spezialeinsätze» eingesetzt, erklärte das Verteidigungsministerium damals. Mehr als 10 000 gefiederte Soldaten würden dafür eigens von einer Spezialeinheit der PLA in Chengdu ausgebildet.
Das gefiederte Aufrüsten in China hat die Taubenliebhaber im Westen aufgeschreckt. Aus Angst, den Anschluss zu verlieren, wurden Forderungen nach dem Wiederauf- und Ausbau neuer Militärtauben-Einheiten laut. In Frankreich wandte sich Jean-Pierre Decool, seines Zeichens Senator im französischen Parlament und Taubenzüchter, vor einigen Jahren mehrmals direkt an das Verteidigungsministerium und forderte ein massives Aufstocken an Armeevögeln.
Das Ministerium verwies auf die Vielzahl moderner, unabhängiger Kommunikationssysteme der französischen Armee. Trotzdem versicherte man Decool, dass die Regierung im Falle eines echten Bedarfs an Brieftauben auf die Hilfe der Taubenliebhaber im Land zählen werde. Tausende von Brieftauben befinden sich in Frankreich derzeit im Privatbesitz. Sie könnten Sylvains Vögel unter die Flügel greifen, sollte das Land erneut auf ihre Botendienste angewiesen sein.